Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Unfreiheit der alten Welt. hütet worden sei. Die Geschichte lehrt uns das Gegentheil.Sie zeigt uns, daß die Menschen von jeher geneigt gewesen sind, auf den vollen Besitz jenes Gutes zu verzichten und daß sie in ihrem Scharfsinne unerschöpflich gewesen sind, um für die inneren Entschlüsse äußere Bestimmungen ausfindig zu machen und die Freiheit des Willens, welche keine Macht der Welt uns entreißen kann, in künstlicher Weise sich selbst zu beschränken. Es ist natürlich, daß wir von diesen beiden widersprechen¬ Der Grund desselben ist ein zwiefacher. Einmal lebt in Es giebt aber auch einen edleren Grund, welcher den Die Unfreiheit der alten Welt. hütet worden ſei. Die Geſchichte lehrt uns das Gegentheil.Sie zeigt uns, daß die Menſchen von jeher geneigt geweſen ſind, auf den vollen Beſitz jenes Gutes zu verzichten und daß ſie in ihrem Scharfſinne unerſchöpflich geweſen ſind, um für die inneren Entſchlüſſe äußere Beſtimmungen ausfindig zu machen und die Freiheit des Willens, welche keine Macht der Welt uns entreißen kann, in künſtlicher Weiſe ſich ſelbſt zu beſchränken. Es iſt natürlich, daß wir von dieſen beiden widerſprechen¬ Der Grund deſſelben iſt ein zwiefacher. Einmal lebt in Es giebt aber auch einen edleren Grund, welcher den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0180" n="164"/><fw place="top" type="header">Die Unfreiheit der alten Welt.<lb/></fw> hütet worden ſei. Die Geſchichte lehrt uns das Gegentheil.<lb/> Sie zeigt uns, daß die Menſchen von jeher geneigt geweſen<lb/> ſind, auf den vollen Beſitz jenes Gutes zu verzichten und daß<lb/> ſie in ihrem Scharfſinne unerſchöpflich geweſen ſind, um für<lb/> die inneren Entſchlüſſe äußere Beſtimmungen ausfindig zu<lb/> machen und die Freiheit des Willens, welche keine Macht der<lb/> Welt uns entreißen kann, in künſtlicher Weiſe ſich ſelbſt zu<lb/> beſchränken.</p><lb/> <p>Es iſt natürlich, daß wir von dieſen beiden widerſprechen¬<lb/> den Richtungen des menſchlichen Geiſtes mit Vorliebe die<lb/> erſtere verfolgen, welche ſich in ſeiner fortſchreitenden Macht¬<lb/> erweiterung und Selbſtbefreiung bezeugt; um ſo lehrreicher<lb/> aber erſcheint es für die Kenntniß des Menſchen und ſeiner<lb/> Geſchichte, auch den Zug zur Unfreiheit, welcher durch die<lb/> Menſchen und Völker geht, nach ſeinen Gründen und in ſeinen<lb/> Erſcheinungsformen zu beachten.</p><lb/> <p>Der Grund deſſelben iſt ein zwiefacher. Einmal lebt in<lb/> jedem Menſchenherzen das tief begründete Gefühl, daß der<lb/> ſchlimmſte Feind unſeres Glücks der Zweifel ſei und nichts<lb/> mehr unſer Gemüth verſtimme und unſere Kräfte lähme, als<lb/> ein Zuſtand der Unklarheit und Unſchlüſſigkeit. Darum iſt<lb/> der Märtyrer, der für ſeine Ueberzeugung Verfolgung und<lb/> Tod leidet, unendlich glücklicher, als der, welcher ohne An¬<lb/> fechtung ſein Leben lang zwiſchen rechts und links mit matter<lb/> Seele hin und her ſchwankt. Dieſem quälenden Zuſtande<lb/> durch freie Selbſtentſcheidung ein Ende zu machen, dazu be¬<lb/> darf es eines Aufwandes von ſittlicher Kraft, welchem ſich die<lb/> menſchliche Trägheit gern entzieht. Sie ſchiebt die Wahl von<lb/> ſich, um damit die Qual los zu werden; ſie giebt einen koſt¬<lb/> baren Beſitz hin, um die daran haftenden Verpflichtungen nicht<lb/> zu übernehmen, ſie ſucht nach äußeren Beſtimmungsgründen,<lb/> um ſich die inneren zu erſparen.</p><lb/> <p>Es giebt aber auch einen edleren Grund, welcher den<lb/> Menſchen zu einer freiwilligen Beſchränkung ſeiner perſön¬<lb/> lichen Freiheit veranlaßt. Er liegt in der Erkenntniß, daß<lb/> nicht bloß ſein äußeres Handeln innerhalb geſetzlicher Schranken<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [164/0180]
Die Unfreiheit der alten Welt.
hütet worden ſei. Die Geſchichte lehrt uns das Gegentheil.
Sie zeigt uns, daß die Menſchen von jeher geneigt geweſen
ſind, auf den vollen Beſitz jenes Gutes zu verzichten und daß
ſie in ihrem Scharfſinne unerſchöpflich geweſen ſind, um für
die inneren Entſchlüſſe äußere Beſtimmungen ausfindig zu
machen und die Freiheit des Willens, welche keine Macht der
Welt uns entreißen kann, in künſtlicher Weiſe ſich ſelbſt zu
beſchränken.
Es iſt natürlich, daß wir von dieſen beiden widerſprechen¬
den Richtungen des menſchlichen Geiſtes mit Vorliebe die
erſtere verfolgen, welche ſich in ſeiner fortſchreitenden Macht¬
erweiterung und Selbſtbefreiung bezeugt; um ſo lehrreicher
aber erſcheint es für die Kenntniß des Menſchen und ſeiner
Geſchichte, auch den Zug zur Unfreiheit, welcher durch die
Menſchen und Völker geht, nach ſeinen Gründen und in ſeinen
Erſcheinungsformen zu beachten.
Der Grund deſſelben iſt ein zwiefacher. Einmal lebt in
jedem Menſchenherzen das tief begründete Gefühl, daß der
ſchlimmſte Feind unſeres Glücks der Zweifel ſei und nichts
mehr unſer Gemüth verſtimme und unſere Kräfte lähme, als
ein Zuſtand der Unklarheit und Unſchlüſſigkeit. Darum iſt
der Märtyrer, der für ſeine Ueberzeugung Verfolgung und
Tod leidet, unendlich glücklicher, als der, welcher ohne An¬
fechtung ſein Leben lang zwiſchen rechts und links mit matter
Seele hin und her ſchwankt. Dieſem quälenden Zuſtande
durch freie Selbſtentſcheidung ein Ende zu machen, dazu be¬
darf es eines Aufwandes von ſittlicher Kraft, welchem ſich die
menſchliche Trägheit gern entzieht. Sie ſchiebt die Wahl von
ſich, um damit die Qual los zu werden; ſie giebt einen koſt¬
baren Beſitz hin, um die daran haftenden Verpflichtungen nicht
zu übernehmen, ſie ſucht nach äußeren Beſtimmungsgründen,
um ſich die inneren zu erſparen.
Es giebt aber auch einen edleren Grund, welcher den
Menſchen zu einer freiwilligen Beſchränkung ſeiner perſön¬
lichen Freiheit veranlaßt. Er liegt in der Erkenntniß, daß
nicht bloß ſein äußeres Handeln innerhalb geſetzlicher Schranken
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