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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Kunstsammlungen, ihre Geschichte und ihre Bestimmung.
man zum ersten Male mit den Werken hellenischer Dichter
und Philosophen in einer Bibliothek, einem gemeinsamen Ar¬
chive des Menschengeistes, vereinigt.

So fremdartig, so neu diese Schöpfung erscheint, so steht
sie dennoch mit den alten Ueberlieferungen in unverkennbarem
Zusammenhange. Hatte doch auch Sophokles einen den Mu¬
sen geweihten Verein gegründet, dessen Mitglieder an be¬
stimmten Tagen zusammenkamen, um die schönen Künste ge¬
meinsam zu pflegen; auch Aristoteles' Schüler hatten in Athen
als Sammelort gleichgesinnter Männer ein Museum gestiftet.
An ein Musenheiligthum schlossen sich auch in Alexandreia die
Säle, Hallen und Sammlungen an; ein Musenpriester war
der Vorstand des Gelehrtenvereins. In den Büchersälen stan¬
den die Büsten der Autoren, wie der Dichter Standbilder auf
dem Helikon; ja die Sammlungen selbst hatten ihr beschei¬
denes Vorbild in den Handschriften hesiodischer Gedichte, welche
man in dem Musenhain des Helikon aufbewahrte.

Diese Traditionen gehen auch durch die römische Zeit,
seit die Römer Griechen zu werden suchten. Einer der ge¬
lehrtesten aller Römer, M. Terentius Varro, hatte auf einer
Flußinsel seinen Studienort, den er sein Museum nannte; eine
solche Insel war es auch, wo Cicero unweit der väterlichen
Villa mit seinen Freunden philosophische Unterredungen hielt.
Die Nähe fließender Gewässer schien hier, wie am Ilissos und
in der Akademie, zum Wohnsitze der Musen unentbehrlich. Ja,
so mächtig war die aus dem frühesten Alterthume stammende
Ueberlieferung, daß man die Museen gern in Form von Nym¬
phengrotten mit überhangendem Felsgewölbe baute und den
Fußboden mit bunten Steinen auslegte, in denen man Kräuter,
Moos und dergl. nachbildete, wie es sich in Ufergrotten findet.
Daher kommt ja auch der Name Musivum oder Mosaik, der
sich nur daraus erklärt, daß die Musen der Hellenen ur¬
sprünglich nichts Anderes als Quellnymphen waren.

Was die Alten Museum nannten, ist also von dem, was
wir hier darunter verstehen, wesentlich verschieden, und inso¬
fern täuscht der Name, welchen wir in goldnen Lettern über

Curtius, Alterthum. 7

Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.
man zum erſten Male mit den Werken helleniſcher Dichter
und Philoſophen in einer Bibliothek, einem gemeinſamen Ar¬
chive des Menſchengeiſtes, vereinigt.

So fremdartig, ſo neu dieſe Schöpfung erſcheint, ſo ſteht
ſie dennoch mit den alten Ueberlieferungen in unverkennbarem
Zuſammenhange. Hatte doch auch Sophokles einen den Mu¬
ſen geweihten Verein gegründet, deſſen Mitglieder an be¬
ſtimmten Tagen zuſammenkamen, um die ſchönen Künſte ge¬
meinſam zu pflegen; auch Ariſtoteles' Schüler hatten in Athen
als Sammelort gleichgeſinnter Männer ein Muſeum geſtiftet.
An ein Muſenheiligthum ſchloſſen ſich auch in Alexandreia die
Säle, Hallen und Sammlungen an; ein Muſenprieſter war
der Vorſtand des Gelehrtenvereins. In den Bücherſälen ſtan¬
den die Büſten der Autoren, wie der Dichter Standbilder auf
dem Helikon; ja die Sammlungen ſelbſt hatten ihr beſchei¬
denes Vorbild in den Handſchriften heſiodiſcher Gedichte, welche
man in dem Muſenhain des Helikon aufbewahrte.

Dieſe Traditionen gehen auch durch die römiſche Zeit,
ſeit die Römer Griechen zu werden ſuchten. Einer der ge¬
lehrteſten aller Römer, M. Terentius Varro, hatte auf einer
Flußinſel ſeinen Studienort, den er ſein Muſeum nannte; eine
ſolche Inſel war es auch, wo Cicero unweit der väterlichen
Villa mit ſeinen Freunden philoſophiſche Unterredungen hielt.
Die Nähe fließender Gewäſſer ſchien hier, wie am Iliſſos und
in der Akademie, zum Wohnſitze der Muſen unentbehrlich. Ja,
ſo mächtig war die aus dem früheſten Alterthume ſtammende
Ueberlieferung, daß man die Muſeen gern in Form von Nym¬
phengrotten mit überhangendem Felsgewölbe baute und den
Fußboden mit bunten Steinen auslegte, in denen man Kräuter,
Moos und dergl. nachbildete, wie es ſich in Ufergrotten findet.
Daher kommt ja auch der Name Muſivum oder Moſaik, der
ſich nur daraus erklärt, daß die Muſen der Hellenen ur¬
ſprünglich nichts Anderes als Quellnymphen waren.

Was die Alten Muſeum nannten, iſt alſo von dem, was
wir hier darunter verſtehen, weſentlich verſchieden, und inſo¬
fern täuſcht der Name, welchen wir in goldnen Lettern über

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[97/0113] Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. man zum erſten Male mit den Werken helleniſcher Dichter und Philoſophen in einer Bibliothek, einem gemeinſamen Ar¬ chive des Menſchengeiſtes, vereinigt. So fremdartig, ſo neu dieſe Schöpfung erſcheint, ſo ſteht ſie dennoch mit den alten Ueberlieferungen in unverkennbarem Zuſammenhange. Hatte doch auch Sophokles einen den Mu¬ ſen geweihten Verein gegründet, deſſen Mitglieder an be¬ ſtimmten Tagen zuſammenkamen, um die ſchönen Künſte ge¬ meinſam zu pflegen; auch Ariſtoteles' Schüler hatten in Athen als Sammelort gleichgeſinnter Männer ein Muſeum geſtiftet. An ein Muſenheiligthum ſchloſſen ſich auch in Alexandreia die Säle, Hallen und Sammlungen an; ein Muſenprieſter war der Vorſtand des Gelehrtenvereins. In den Bücherſälen ſtan¬ den die Büſten der Autoren, wie der Dichter Standbilder auf dem Helikon; ja die Sammlungen ſelbſt hatten ihr beſchei¬ denes Vorbild in den Handſchriften heſiodiſcher Gedichte, welche man in dem Muſenhain des Helikon aufbewahrte. Dieſe Traditionen gehen auch durch die römiſche Zeit, ſeit die Römer Griechen zu werden ſuchten. Einer der ge¬ lehrteſten aller Römer, M. Terentius Varro, hatte auf einer Flußinſel ſeinen Studienort, den er ſein Muſeum nannte; eine ſolche Inſel war es auch, wo Cicero unweit der väterlichen Villa mit ſeinen Freunden philoſophiſche Unterredungen hielt. Die Nähe fließender Gewäſſer ſchien hier, wie am Iliſſos und in der Akademie, zum Wohnſitze der Muſen unentbehrlich. Ja, ſo mächtig war die aus dem früheſten Alterthume ſtammende Ueberlieferung, daß man die Muſeen gern in Form von Nym¬ phengrotten mit überhangendem Felsgewölbe baute und den Fußboden mit bunten Steinen auslegte, in denen man Kräuter, Moos und dergl. nachbildete, wie es ſich in Ufergrotten findet. Daher kommt ja auch der Name Muſivum oder Moſaik, der ſich nur daraus erklärt, daß die Muſen der Hellenen ur¬ ſprünglich nichts Anderes als Quellnymphen waren. Was die Alten Muſeum nannten, iſt alſo von dem, was wir hier darunter verſtehen, weſentlich verſchieden, und inſo¬ fern täuſcht der Name, welchen wir in goldnen Lettern über Curtius, Alterthum. 7

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/113>, abgerufen am 28.11.2024.