Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.VIII. Betrachtung. Pflicht heilig, jedes Gesetz unverbrüchlich; ihm wur-de jede Pflicht, jede Arbeit leicht und angenehm, und er lebte nicht für sich, sondern für andre. Seine Frömmigkeit zeigte sich nicht nur an gewissen feyer- lichen Festen und Tagen, sondern zu allen Zeiten, nicht nur in der Gesellschaft seiner Freunde, sondern auch im Umgange mit seinen Feinden, nicht nur im Tempel und an öffentlichen Versammlungsplätzen der Juden, sondern auch mitten unter der größten Volksmenge und auf den einsamsten Bergen; nicht nur bey dem Spotte seiner Feinde, sondern auch bey den Ehrenbezeugungen seiner Freunde; überall war er der aufrichtigste Verehrer Gottes. Jhm war es nicht darum zu thun, durch seinen durchgängig frommen Wandel Beyfall und Bewunderung unter seinen Zeitgenossen zu erlangen, wie etwa die Pha- risäer durch ihre verstellte Frömmigkeit den Ruhm einer vorzüglichen Heiligkeit zu erschleichen suchten;*) Nein! der stille Beyfall seines Gewissens, und das frohe Bewußtseyn, jedesmal seine Pflicht gethan zu haben, belohnte und erfreute ihn mehr, als das lau- te Zujauchzen des wankelmüthigen Volks, das heute sagte: er ist fromm, und morgen: er verführt das Volk.**) Das Wohlgefallen seines himmlischen Vaters war ihm schätzbarer und theuerer, als alles, was die Erde kostbares gewährt. Und so wie er von *) Luc. 18, 11. 12. **) Joh. 7, 12.
VIII. Betrachtung. Pflicht heilig, jedes Geſetz unverbrüchlich; ihm wur-de jede Pflicht, jede Arbeit leicht und angenehm, und er lebte nicht für ſich, ſondern für andre. Seine Frömmigkeit zeigte ſich nicht nur an gewiſſen feyer- lichen Feſten und Tagen, ſondern zu allen Zeiten, nicht nur in der Geſellſchaft ſeiner Freunde, ſondern auch im Umgange mit ſeinen Feinden, nicht nur im Tempel und an öffentlichen Verſammlungsplätzen der Juden, ſondern auch mitten unter der größten Volksmenge und auf den einſamſten Bergen; nicht nur bey dem Spotte ſeiner Feinde, ſondern auch bey den Ehrenbezeugungen ſeiner Freunde; überall war er der aufrichtigſte Verehrer Gottes. Jhm war es nicht darum zu thun, durch ſeinen durchgängig frommen Wandel Beyfall und Bewunderung unter ſeinen Zeitgenoſſen zu erlangen, wie etwa die Pha- riſäer durch ihre verſtellte Frömmigkeit den Ruhm einer vorzüglichen Heiligkeit zu erſchleichen ſuchten;*) Nein! der ſtille Beyfall ſeines Gewiſſens, und das frohe Bewußtſeyn, jedesmal ſeine Pflicht gethan zu haben, belohnte und erfreute ihn mehr, als das lau- te Zujauchzen des wankelmüthigen Volks, das heute ſagte: er iſt fromm, und morgen: er verführt das Volk.**) Das Wohlgefallen ſeines himmliſchen Vaters war ihm ſchätzbarer und theuerer, als alles, was die Erde koſtbares gewährt. Und ſo wie er von *) Luc. 18, 11. 12. **) Joh. 7, 12.
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VIII. Betrachtung.
Pflicht heilig, jedes Geſetz unverbrüchlich; ihm wur-
de jede Pflicht, jede Arbeit leicht und angenehm, und
er lebte nicht für ſich, ſondern für andre. Seine
Frömmigkeit zeigte ſich nicht nur an gewiſſen feyer-
lichen Feſten und Tagen, ſondern zu allen Zeiten,
nicht nur in der Geſellſchaft ſeiner Freunde, ſondern
auch im Umgange mit ſeinen Feinden, nicht nur im
Tempel und an öffentlichen Verſammlungsplätzen
der Juden, ſondern auch mitten unter der größten
Volksmenge und auf den einſamſten Bergen; nicht
nur bey dem Spotte ſeiner Feinde, ſondern auch bey
den Ehrenbezeugungen ſeiner Freunde; überall war
er der aufrichtigſte Verehrer Gottes. Jhm war
es nicht darum zu thun, durch ſeinen durchgängig
frommen Wandel Beyfall und Bewunderung unter
ſeinen Zeitgenoſſen zu erlangen, wie etwa die Pha-
riſäer durch ihre verſtellte Frömmigkeit den Ruhm
einer vorzüglichen Heiligkeit zu erſchleichen ſuchten; *)
Nein! der ſtille Beyfall ſeines Gewiſſens, und das
frohe Bewußtſeyn, jedesmal ſeine Pflicht gethan zu
haben, belohnte und erfreute ihn mehr, als das lau-
te Zujauchzen des wankelmüthigen Volks, das heute
ſagte: er iſt fromm, und morgen: er verführt das
Volk. **) Das Wohlgefallen ſeines himmliſchen
Vaters war ihm ſchätzbarer und theuerer, als alles,
was die Erde koſtbares gewährt. Und ſo wie er
von
*) Luc. 18, 11. 12.
**) Joh. 7, 12.
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