Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LIX. Betrachtung. sie verhalten sollst. Betrachte dich und deine Glau-bensgenossen nicht, wie ehemals der Jude, für die einzigen Lieblinge des Himmels; glaube nicht, daß dir die Seligkeit schon um deswillen müsse zu Theil werden, weil du von christlichen Eltern abstammst; siehe nicht alle übrigen Menschen für Geschöpfe einer ganz andern Art an. Denn nicht alle, die einer fal- schen Religion zugethan sind, irren aus Bosheit und mit Vorsatz. Ohne Zweifel giebt es nicht nur un- ter unsern irrenden Glaubensbrüdern, sondern auch unter Juden und Heyden viel Redlichgesinnte, denen es nur an Gelegenheit zu einer bessern Erziehung und zu einem zweckmäßigern Unterrichte fehlt, und die nach ihren geringern Einsichten mit redlicher Sorg- falt tugendhaft leben. Sie verdienen gewiß mehr Liebe und Hochachtung, als so viele Christen, die nichts als den bloßen Namen haben, die Religion durch ihre schlechte Aufführung schänden, und wohl gar einen lasterhaftern Lebenswandel führen, als manche Nichtchristen. Mußt du also unter frem- den Religionsverwandten leben; so feinde sie nicht an, spotte nicht über ihre Gebräuche, und sprich über keinen das Verdammungsurtheil aus; denn sonst würdest du den Grundsätzen und dem Geiste des Chri- stenthums ganz entgegen handeln. Ergreife viel- mehr alle Gelegenheit, wo du deinen Mitmenschen, wenn sie auch anders denken, etwas Gutes erzeigen kannst,
LIX. Betrachtung. ſie verhalten ſollſt. Betrachte dich und deine Glau-bensgenoſſen nicht, wie ehemals der Jude, für die einzigen Lieblinge des Himmels; glaube nicht, daß dir die Seligkeit ſchon um deswillen müſſe zu Theil werden, weil du von chriſtlichen Eltern abſtammſt; ſiehe nicht alle übrigen Menſchen für Geſchöpfe einer ganz andern Art an. Denn nicht alle, die einer fal- ſchen Religion zugethan ſind, irren aus Bosheit und mit Vorſatz. Ohne Zweifel giebt es nicht nur un- ter unſern irrenden Glaubensbrüdern, ſondern auch unter Juden und Heyden viel Redlichgeſinnte, denen es nur an Gelegenheit zu einer beſſern Erziehung und zu einem zweckmäßigern Unterrichte fehlt, und die nach ihren geringern Einſichten mit redlicher Sorg- falt tugendhaft leben. Sie verdienen gewiß mehr Liebe und Hochachtung, als ſo viele Chriſten, die nichts als den bloßen Namen haben, die Religion durch ihre ſchlechte Aufführung ſchänden, und wohl gar einen laſterhaftern Lebenswandel führen, als manche Nichtchriſten. Mußt du alſo unter frem- den Religionsverwandten leben; ſo feinde ſie nicht an, ſpotte nicht über ihre Gebräuche, und ſprich über keinen das Verdammungsurtheil aus; denn ſonſt würdeſt du den Grundſätzen und dem Geiſte des Chri- ſtenthums ganz entgegen handeln. Ergreife viel- mehr alle Gelegenheit, wo du deinen Mitmenſchen, wenn ſie auch anders denken, etwas Gutes erzeigen kannſt,
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LIX. Betrachtung.
ſie verhalten ſollſt. Betrachte dich und deine Glau-
bensgenoſſen nicht, wie ehemals der Jude, für die
einzigen Lieblinge des Himmels; glaube nicht, daß
dir die Seligkeit ſchon um deswillen müſſe zu Theil
werden, weil du von chriſtlichen Eltern abſtammſt;
ſiehe nicht alle übrigen Menſchen für Geſchöpfe einer
ganz andern Art an. Denn nicht alle, die einer fal-
ſchen Religion zugethan ſind, irren aus Bosheit und
mit Vorſatz. Ohne Zweifel giebt es nicht nur un-
ter unſern irrenden Glaubensbrüdern, ſondern auch
unter Juden und Heyden viel Redlichgeſinnte, denen
es nur an Gelegenheit zu einer beſſern Erziehung und
zu einem zweckmäßigern Unterrichte fehlt, und die
nach ihren geringern Einſichten mit redlicher Sorg-
falt tugendhaft leben. Sie verdienen gewiß mehr
Liebe und Hochachtung, als ſo viele Chriſten, die
nichts als den bloßen Namen haben, die Religion
durch ihre ſchlechte Aufführung ſchänden, und wohl
gar einen laſterhaftern Lebenswandel führen, als
manche Nichtchriſten. Mußt du alſo unter frem-
den Religionsverwandten leben; ſo feinde ſie nicht
an, ſpotte nicht über ihre Gebräuche, und ſprich über
keinen das Verdammungsurtheil aus; denn ſonſt
würdeſt du den Grundſätzen und dem Geiſte des Chri-
ſtenthums ganz entgegen handeln. Ergreife viel-
mehr alle Gelegenheit, wo du deinen Mitmenſchen,
wenn ſie auch anders denken, etwas Gutes erzeigen
kannſt,
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