Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LII. Betrachtung. war groß und treu, aber nicht abgöttisch, er dulde-te ihre Schwachheiten, aber nie war er schwach wie sie; er schätzte seine Freunde, aber er war nie zu nachsichtig gegen sie. Oft tadelte er daher seine Schüler, wegen ihrer seltsamen unüberlegten Fra- gen, wegen ihres Mangels an Vertrauen auf ihn, wegen ihrer Vorurtheile, die sie gar nicht ablegen wollten, und wegen ihrer kindischen Eitelkeit, nach der sie hoften und wünschten, irdische Regenten zu werden. Mit gleicher Freymüthigkeit gab er der Martha einen sanften gelinden Verweis, wegen ih- rer allzugroßen ängstlichen Geschäftigkeit, die sie an- wandte, um ihn anständig zu bewirthen, und wo- durch sie sich verleiten ließ, ihre Schwester Maria von einem weit wichtigern und edlern Geschäfte abzu- rufen: Martha, Martha! du machst dir viel Sor- ge. Eins ist noth; Maria hat das beste Theil er- wählt, das soll nicht von ihr genommen werden.*) Das heißt: den Geist durch Anhören des Unterrichts in Religion und Tugend zu nähren, das ist der größ- ten Mühe werth, Maria sucht solche Nahrung für ihre Seele, und das wird ihr unvergänglichen Nuz- zen bringen. Durch diesen gelinden Verweis tadel- te Jesus zwar nicht die Sorgen, die Martha um ihr Hauswesen hatte, und die sie aus Freundschaft für ihn sich machte; aber er gab ihr doch zu verstehen, das es noch wichtigere Sorgen gebe, die man bey den *) Luc. 10, 41. 42.
LII. Betrachtung. war groß und treu, aber nicht abgöttiſch, er dulde-te ihre Schwachheiten, aber nie war er ſchwach wie ſie; er ſchätzte ſeine Freunde, aber er war nie zu nachſichtig gegen ſie. Oft tadelte er daher ſeine Schüler, wegen ihrer ſeltſamen unüberlegten Fra- gen, wegen ihres Mangels an Vertrauen auf ihn, wegen ihrer Vorurtheile, die ſie gar nicht ablegen wollten, und wegen ihrer kindiſchen Eitelkeit, nach der ſie hoften und wünſchten, irdiſche Regenten zu werden. Mit gleicher Freymüthigkeit gab er der Martha einen ſanften gelinden Verweis, wegen ih- rer allzugroßen ängſtlichen Geſchäftigkeit, die ſie an- wandte, um ihn anſtändig zu bewirthen, und wo- durch ſie ſich verleiten ließ, ihre Schweſter Maria von einem weit wichtigern und edlern Geſchäfte abzu- rufen: Martha, Martha! du machſt dir viel Sor- ge. Eins iſt noth; Maria hat das beſte Theil er- wählt, das ſoll nicht von ihr genommen werden.*) Das heißt: den Geiſt durch Anhören des Unterrichts in Religion und Tugend zu nähren, das iſt der größ- ten Mühe werth, Maria ſucht ſolche Nahrung für ihre Seele, und das wird ihr unvergänglichen Nuz- zen bringen. Durch dieſen gelinden Verweis tadel- te Jeſus zwar nicht die Sorgen, die Martha um ihr Hausweſen hatte, und die ſie aus Freundſchaft für ihn ſich machte; aber er gab ihr doch zu verſtehen, das es noch wichtigere Sorgen gebe, die man bey den *) Luc. 10, 41. 42.
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LII. Betrachtung.
war groß und treu, aber nicht abgöttiſch, er dulde-
te ihre Schwachheiten, aber nie war er ſchwach wie
ſie; er ſchätzte ſeine Freunde, aber er war nie zu
nachſichtig gegen ſie. Oft tadelte er daher ſeine
Schüler, wegen ihrer ſeltſamen unüberlegten Fra-
gen, wegen ihres Mangels an Vertrauen auf ihn,
wegen ihrer Vorurtheile, die ſie gar nicht ablegen
wollten, und wegen ihrer kindiſchen Eitelkeit, nach
der ſie hoften und wünſchten, irdiſche Regenten zu
werden. Mit gleicher Freymüthigkeit gab er der
Martha einen ſanften gelinden Verweis, wegen ih-
rer allzugroßen ängſtlichen Geſchäftigkeit, die ſie an-
wandte, um ihn anſtändig zu bewirthen, und wo-
durch ſie ſich verleiten ließ, ihre Schweſter Maria
von einem weit wichtigern und edlern Geſchäfte abzu-
rufen: Martha, Martha! du machſt dir viel Sor-
ge. Eins iſt noth; Maria hat das beſte Theil er-
wählt, das ſoll nicht von ihr genommen werden. *)
Das heißt: den Geiſt durch Anhören des Unterrichts
in Religion und Tugend zu nähren, das iſt der größ-
ten Mühe werth, Maria ſucht ſolche Nahrung für
ihre Seele, und das wird ihr unvergänglichen Nuz-
zen bringen. Durch dieſen gelinden Verweis tadel-
te Jeſus zwar nicht die Sorgen, die Martha um ihr
Hausweſen hatte, und die ſie aus Freundſchaft für
ihn ſich machte; aber er gab ihr doch zu verſtehen,
das es noch wichtigere Sorgen gebe, die man bey
den
*) Luc. 10, 41. 42.
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