Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

LII. Betrachtung.
so sprach er: wer ist meine Mutter, und wer sind
meine Brüder?
Und indem er mit der Hand auf sei-
ne anwesenden Jünger wies, fuhr er fort: siehe da,
das ist meine Mutter und meine Brüder.
*) Denn
wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der-
selbige ist mein Bruder, Schwester und Mutter.

Diese Rede beweist gar nicht, daß Jesus die Achtung
gegen seine Mutter aus den Augen gesetzt, oder daß
er sich seiner Anverwandten geschämt habe, wie man
ihm das mehrmals zum Vorwurf gemacht hat, son-
dern er wollte damit so viel sagen: wer nach dem
Willen dessen lebt, der im eigentlichen Sinne mein
Vater ist, der ist mir am nächsten verwandt, dem
erzeige ich eben die Achtung, die man sonst seinen
Blutsfreunden erweiset. Jesus schien also hier et-
was gleichgültig gegen seine Verwandten, theils weil
er sich in seinen nützlichen Beschäftigungen nicht un-
terbrechen lassen wollte, theils um die günstige Ge-
legenheit, die ihm der Zufall anbot, zu benutzen, um
seinen Zuhörern zu zeigen, daß wahre Gottesvereh-
rung bey ihm mehr als Verwandschaft gelte, daß er
nicht blos für die Freundschaft lebe, sondern für das
Wohl der Menschheit. Machte ihn aber die An-
hänglichkeit an seine Familie und Freunde nicht nach-
läßig in seinem Berufe, so machte sie ihn auch nicht
gleichgültig gegen ihre Fehler. Seine Liebe zu ihnen

war
*) Matth. 12, 48.
Y 4

LII. Betrachtung.
ſo ſprach er: wer iſt meine Mutter, und wer ſind
meine Brüder?
Und indem er mit der Hand auf ſei-
ne anweſenden Jünger wies, fuhr er fort: ſiehe da,
das iſt meine Mutter und meine Brüder.
*) Denn
wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der-
ſelbige iſt mein Bruder, Schweſter und Mutter.

Dieſe Rede beweiſt gar nicht, daß Jeſus die Achtung
gegen ſeine Mutter aus den Augen geſetzt, oder daß
er ſich ſeiner Anverwandten geſchämt habe, wie man
ihm das mehrmals zum Vorwurf gemacht hat, ſon-
dern er wollte damit ſo viel ſagen: wer nach dem
Willen deſſen lebt, der im eigentlichen Sinne mein
Vater iſt, der iſt mir am nächſten verwandt, dem
erzeige ich eben die Achtung, die man ſonſt ſeinen
Blutsfreunden erweiſet. Jeſus ſchien alſo hier et-
was gleichgültig gegen ſeine Verwandten, theils weil
er ſich in ſeinen nützlichen Beſchäftigungen nicht un-
terbrechen laſſen wollte, theils um die günſtige Ge-
legenheit, die ihm der Zufall anbot, zu benutzen, um
ſeinen Zuhörern zu zeigen, daß wahre Gottesvereh-
rung bey ihm mehr als Verwandſchaft gelte, daß er
nicht blos für die Freundſchaft lebe, ſondern für das
Wohl der Menſchheit. Machte ihn aber die An-
hänglichkeit an ſeine Familie und Freunde nicht nach-
läßig in ſeinem Berufe, ſo machte ſie ihn auch nicht
gleichgültig gegen ihre Fehler. Seine Liebe zu ihnen

war
*) Matth. 12, 48.
Y 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0369" n="343"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">LII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
&#x017F;o &#x017F;prach er: <hi rendition="#fr">wer i&#x017F;t meine Mutter, und wer &#x017F;ind<lb/>
meine Brüder?</hi> Und indem er mit der Hand auf &#x017F;ei-<lb/>
ne anwe&#x017F;enden Jünger wies, fuhr er fort: <hi rendition="#fr">&#x017F;iehe da,<lb/>
das i&#x017F;t meine Mutter und meine Brüder.</hi><note place="foot" n="*)">Matth. 12, 48.</note> <hi rendition="#fr">Denn<lb/>
wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der-<lb/>
&#x017F;elbige i&#x017F;t mein Bruder, Schwe&#x017F;ter und Mutter.</hi><lb/>
Die&#x017F;e Rede bewei&#x017F;t gar nicht, daß Je&#x017F;us die Achtung<lb/>
gegen &#x017F;eine Mutter aus den Augen ge&#x017F;etzt, oder daß<lb/>
er &#x017F;ich &#x017F;einer Anverwandten ge&#x017F;chämt habe, wie man<lb/>
ihm das mehrmals zum Vorwurf gemacht hat, &#x017F;on-<lb/>
dern er wollte damit &#x017F;o viel &#x017F;agen: wer nach dem<lb/>
Willen de&#x017F;&#x017F;en lebt, der im eigentlichen Sinne mein<lb/>
Vater i&#x017F;t, der i&#x017F;t mir am näch&#x017F;ten verwandt, dem<lb/>
erzeige ich eben die Achtung, die man &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;einen<lb/>
Blutsfreunden erwei&#x017F;et. Je&#x017F;us &#x017F;chien al&#x017F;o hier et-<lb/>
was gleichgültig gegen &#x017F;eine Verwandten, theils weil<lb/>
er &#x017F;ich in &#x017F;einen nützlichen Be&#x017F;chäftigungen nicht un-<lb/>
terbrechen la&#x017F;&#x017F;en wollte, theils um die gün&#x017F;tige Ge-<lb/>
legenheit, die ihm der Zufall anbot, zu benutzen, um<lb/>
&#x017F;einen Zuhörern zu zeigen, daß wahre Gottesvereh-<lb/>
rung bey ihm mehr als Verwand&#x017F;chaft gelte, daß er<lb/>
nicht blos für die Freund&#x017F;chaft lebe, &#x017F;ondern für das<lb/>
Wohl der Men&#x017F;chheit. Machte ihn aber die An-<lb/>
hänglichkeit an &#x017F;eine Familie und Freunde nicht nach-<lb/>
läßig in &#x017F;einem Berufe, &#x017F;o machte &#x017F;ie ihn auch nicht<lb/>
gleichgültig gegen ihre Fehler. Seine Liebe zu ihnen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y 4</fw><fw place="bottom" type="catch">war</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0369] LII. Betrachtung. ſo ſprach er: wer iſt meine Mutter, und wer ſind meine Brüder? Und indem er mit der Hand auf ſei- ne anweſenden Jünger wies, fuhr er fort: ſiehe da, das iſt meine Mutter und meine Brüder. *) Denn wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der- ſelbige iſt mein Bruder, Schweſter und Mutter. Dieſe Rede beweiſt gar nicht, daß Jeſus die Achtung gegen ſeine Mutter aus den Augen geſetzt, oder daß er ſich ſeiner Anverwandten geſchämt habe, wie man ihm das mehrmals zum Vorwurf gemacht hat, ſon- dern er wollte damit ſo viel ſagen: wer nach dem Willen deſſen lebt, der im eigentlichen Sinne mein Vater iſt, der iſt mir am nächſten verwandt, dem erzeige ich eben die Achtung, die man ſonſt ſeinen Blutsfreunden erweiſet. Jeſus ſchien alſo hier et- was gleichgültig gegen ſeine Verwandten, theils weil er ſich in ſeinen nützlichen Beſchäftigungen nicht un- terbrechen laſſen wollte, theils um die günſtige Ge- legenheit, die ihm der Zufall anbot, zu benutzen, um ſeinen Zuhörern zu zeigen, daß wahre Gottesvereh- rung bey ihm mehr als Verwandſchaft gelte, daß er nicht blos für die Freundſchaft lebe, ſondern für das Wohl der Menſchheit. Machte ihn aber die An- hänglichkeit an ſeine Familie und Freunde nicht nach- läßig in ſeinem Berufe, ſo machte ſie ihn auch nicht gleichgültig gegen ihre Fehler. Seine Liebe zu ihnen war *) Matth. 12, 48. Y 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/369
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/369>, abgerufen am 23.11.2024.