Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLVII. Betrachtung. wesentlicher Theil des Christenthums anzusehen wäre,und zu allen Zeiten beobachtet werden müßte; zumal da dieser Gebrauch nicht ganz für die Bewohner der vorzüglich kalten Abendländer paßt. Auch wollte er damit nicht lehren, als wenn das Fußwaschen an sich selbst eine vorzügliche Art von Demuth wäre; denn sonst könnte auch der Stolzeste, der größte Thor diese Handlung verrichten, um Aufsehn damit zu ma- chen, und sich von andern bewundern zu lassen. Je- sus wollte vielmehr durch diese Handlung den Stolz, die Herrschsucht und die Eitelkeit seiner Jünger be- schämen, und sie von diesen Fehlern reinigen; er woll- te ihnen zeigen, daß man sich keiner Dienstleistung schämen dürfe, daß man bisweilen auch etwas thun müsse, wozu man eben keine besondre Verbindlichkeit habe; er wollte dadurch im voraus hindern, daß sie insbesondere sich nicht über einander erheben und den- ken sollten, ihre Ehre und Würde bestehe im äußer- lichen Range, und daß sie ja nicht vergessen möchten, sich als Brüder zu betrachten; er wollte, daß sie von nun an so gesinnt seyn, und so mit einander umgehen sollten, wie er gesinnt war, und wie er mit ihnen um- gieng. Hatte er sich nicht geschämt, sie zu bedienen, so sollten sie sich auch nicht weigern, einander zu die- nen, und ja nicht wieder auf solche Gedanken gera- then, wie ehemals, als sie fragten: Welcher der größte im Himmelreich sey? Darum sprach er: Ein Bey- U 2
XLVII. Betrachtung. weſentlicher Theil des Chriſtenthums anzuſehen wäre,und zu allen Zeiten beobachtet werden müßte; zumal da dieſer Gebrauch nicht ganz für die Bewohner der vorzüglich kalten Abendländer paßt. Auch wollte er damit nicht lehren, als wenn das Fußwaſchen an ſich ſelbſt eine vorzügliche Art von Demuth wäre; denn ſonſt könnte auch der Stolzeſte, der größte Thor dieſe Handlung verrichten, um Aufſehn damit zu ma- chen, und ſich von andern bewundern zu laſſen. Je- ſus wollte vielmehr durch dieſe Handlung den Stolz, die Herrſchſucht und die Eitelkeit ſeiner Jünger be- ſchämen, und ſie von dieſen Fehlern reinigen; er woll- te ihnen zeigen, daß man ſich keiner Dienſtleiſtung ſchämen dürfe, daß man bisweilen auch etwas thun müſſe, wozu man eben keine beſondre Verbindlichkeit habe; er wollte dadurch im voraus hindern, daß ſie insbeſondere ſich nicht über einander erheben und den- ken ſollten, ihre Ehre und Würde beſtehe im äußer- lichen Range, und daß ſie ja nicht vergeſſen möchten, ſich als Brüder zu betrachten; er wollte, daß ſie von nun an ſo geſinnt ſeyn, und ſo mit einander umgehen ſollten, wie er geſinnt war, und wie er mit ihnen um- gieng. Hatte er ſich nicht geſchämt, ſie zu bedienen, ſo ſollten ſie ſich auch nicht weigern, einander zu die- nen, und ja nicht wieder auf ſolche Gedanken gera- then, wie ehemals, als ſie fragten: Welcher der größte im Himmelreich ſey? Darum ſprach er: Ein Bey- U 2
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XLVII. Betrachtung.
weſentlicher Theil des Chriſtenthums anzuſehen wäre,
und zu allen Zeiten beobachtet werden müßte; zumal
da dieſer Gebrauch nicht ganz für die Bewohner der
vorzüglich kalten Abendländer paßt. Auch wollte er
damit nicht lehren, als wenn das Fußwaſchen an ſich
ſelbſt eine vorzügliche Art von Demuth wäre;
denn ſonſt könnte auch der Stolzeſte, der größte Thor
dieſe Handlung verrichten, um Aufſehn damit zu ma-
chen, und ſich von andern bewundern zu laſſen. Je-
ſus wollte vielmehr durch dieſe Handlung den Stolz,
die Herrſchſucht und die Eitelkeit ſeiner Jünger be-
ſchämen, und ſie von dieſen Fehlern reinigen; er woll-
te ihnen zeigen, daß man ſich keiner Dienſtleiſtung
ſchämen dürfe, daß man bisweilen auch etwas thun
müſſe, wozu man eben keine beſondre Verbindlichkeit
habe; er wollte dadurch im voraus hindern, daß ſie
insbeſondere ſich nicht über einander erheben und den-
ken ſollten, ihre Ehre und Würde beſtehe im äußer-
lichen Range, und daß ſie ja nicht vergeſſen möchten,
ſich als Brüder zu betrachten; er wollte, daß ſie von
nun an ſo geſinnt ſeyn, und ſo mit einander umgehen
ſollten, wie er geſinnt war, und wie er mit ihnen um-
gieng. Hatte er ſich nicht geſchämt, ſie zu bedienen,
ſo ſollten ſie ſich auch nicht weigern, einander zu die-
nen, und ja nicht wieder auf ſolche Gedanken gera-
then, wie ehemals, als ſie fragten: Welcher der
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