Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLVII. Betrachtung. len nicht über sie; verachtete nicht die ungeübte Tu-gend seiner Schüler und Freunde, half ihnen viel- mehr bey ihrer Schwachheit aufs liebreichste fort. Nie rühmte er seine großen Wunderthaten; und wenn er sie ja erwähnte, so geschahe es nur, um sie als einen Beweis für seine göttliche Sendung anzuführen. Sein ganzes niedriges Leben, das er auf Erden führ- te, zeiget, wie weit er von allem Stolze und von al- ler eitlen Ruhmsucht entfernt war; und nahm er ja einige Ehrenbezeugungen an, wie es bey seinem Ein- zuge in Jerusalem geschahe; so lehnte er sie deswe- gen nicht ab, damit es nicht scheinen möchte, als ob er sich selbst nicht für den hielte, der er doch war, und wofür man ihn öffentlich erklärte. Besonders aber gab er noch am Ende seines Lebens ein sehr deutliches Beyspiel der Demuth, als er bey einer Abendmahl- zeit in Bethanien seinen Jüngern die Füsse wusch. Eine Gewohnheit, die bey morgenländischen Völkern mit zur Bewirthung eines Gastes gehörte, weil man da die Füsse mehrentheils blos trug, und wo es also um der Reinlichkeit willen nöthig war; eine Höflichkeit, die man seinem Freunde gleich bey dem Empfang, ge- meiniglich durch einen Sclaven, zu erweisen pflegte.*) Jesu Absicht dabey war nicht, daß die Jünger diese Handlung unter sich oder an andern wiederholen soll- ten, indem man nirgends davon eine Spur findet. Er hat dadurch kein Gesetz geben wollen, das als ein we- *) Joh. 13. 1 Mos. 18, 4-16. Luc. 7, 44.
XLVII. Betrachtung. len nicht über ſie; verachtete nicht die ungeübte Tu-gend ſeiner Schüler und Freunde, half ihnen viel- mehr bey ihrer Schwachheit aufs liebreichſte fort. Nie rühmte er ſeine großen Wunderthaten; und wenn er ſie ja erwähnte, ſo geſchahe es nur, um ſie als einen Beweis für ſeine göttliche Sendung anzuführen. Sein ganzes niedriges Leben, das er auf Erden führ- te, zeiget, wie weit er von allem Stolze und von al- ler eitlen Ruhmſucht entfernt war; und nahm er ja einige Ehrenbezeugungen an, wie es bey ſeinem Ein- zuge in Jeruſalem geſchahe; ſo lehnte er ſie deswe- gen nicht ab, damit es nicht ſcheinen möchte, als ob er ſich ſelbſt nicht für den hielte, der er doch war, und wofür man ihn öffentlich erklärte. Beſonders aber gab er noch am Ende ſeines Lebens ein ſehr deutliches Beyſpiel der Demuth, als er bey einer Abendmahl- zeit in Bethanien ſeinen Jüngern die Füſſe wuſch. Eine Gewohnheit, die bey morgenländiſchen Völkern mit zur Bewirthung eines Gaſtes gehörte, weil man da die Füſſe mehrentheils blos trug, und wo es alſo um der Reinlichkeit willen nöthig war; eine Höflichkeit, die man ſeinem Freunde gleich bey dem Empfang, ge- meiniglich durch einen Sclaven, zu erweiſen pflegte.*) Jeſu Abſicht dabey war nicht, daß die Jünger dieſe Handlung unter ſich oder an andern wiederholen ſoll- ten, indem man nirgends davon eine Spur findet. Er hat dadurch kein Geſetz geben wollen, das als ein we- *) Joh. 13. 1 Moſ. 18, 4-16. Luc. 7, 44.
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XLVII. Betrachtung.
len nicht über ſie; verachtete nicht die ungeübte Tu-
gend ſeiner Schüler und Freunde, half ihnen viel-
mehr bey ihrer Schwachheit aufs liebreichſte fort.
Nie rühmte er ſeine großen Wunderthaten; und
wenn er ſie ja erwähnte, ſo geſchahe es nur, um ſie als
einen Beweis für ſeine göttliche Sendung anzuführen.
Sein ganzes niedriges Leben, das er auf Erden führ-
te, zeiget, wie weit er von allem Stolze und von al-
ler eitlen Ruhmſucht entfernt war; und nahm er ja
einige Ehrenbezeugungen an, wie es bey ſeinem Ein-
zuge in Jeruſalem geſchahe; ſo lehnte er ſie deswe-
gen nicht ab, damit es nicht ſcheinen möchte, als ob
er ſich ſelbſt nicht für den hielte, der er doch war, und
wofür man ihn öffentlich erklärte. Beſonders aber
gab er noch am Ende ſeines Lebens ein ſehr deutliches
Beyſpiel der Demuth, als er bey einer Abendmahl-
zeit in Bethanien ſeinen Jüngern die Füſſe wuſch.
Eine Gewohnheit, die bey morgenländiſchen Völkern
mit zur Bewirthung eines Gaſtes gehörte, weil man da
die Füſſe mehrentheils blos trug, und wo es alſo um
der Reinlichkeit willen nöthig war; eine Höflichkeit,
die man ſeinem Freunde gleich bey dem Empfang, ge-
meiniglich durch einen Sclaven, zu erweiſen pflegte. *)
Jeſu Abſicht dabey war nicht, daß die Jünger dieſe
Handlung unter ſich oder an andern wiederholen ſoll-
ten, indem man nirgends davon eine Spur findet.
Er hat dadurch kein Geſetz geben wollen, das als ein
we-
*) Joh. 13. 1 Moſ. 18, 4-16. Luc. 7, 44.
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