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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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XXXVII. Betrachtung.
die frühe Reife seines Verstandes, das richtige und
tiefforschende in seinen Antworten. Ja, seine Eltern,
die ihn bisher ängstlich und vergeblich unter der gan-
zen Reisegesellschaft gesucht hatten, erstaunten nicht
wenig, als sie ihn mitten unter den Lehrern so be-
schäftiget antrafen, weil sie ihn grade da am wenig-
sten gesucht hätten. Der Evangelist setzt deswegen
auch ausdrücklich hinzu: er nahm zu an Weisheit.*)
Seine Einsichten nahmen also mit seinem Alter zu;
und so wie das Wachsthum seines Körpers sichtbar
wurde, eben so war es auch die Ausbildung seiner
Seelenkräfte. Ob nun gleich das Wachsthum sei-
ner Einsichten ganz außerordentlich war, obgleich
seine Kenntnisse nicht blos das Werk der Kunst und
des Fleißes waren, ob wir sie gleich als unmittelbare
Gaben Gottes anzusehen haben; so ist es doch sehr
wahrscheinlich, daß er selbst durch eigene Uebung und
Anstrengung dazu beygetragen habe. Uebungen die-
ser Art waren für die menschliche Seele Jesu sehr
nöthig; auch sie mußte nach und nach zur Erkennt-
niß der Religionswahrheiten gelangen; mußte mit
der Denkungsart und mit den Meynungen der Juden
bekannt werden, um sie einst zu verbessern, und ei-
ne richtigere Lehre unter diesem Volcke einzuführen.
Jesus hatte aber seine Einsichten keinen damaligen
jüdischen Lehrer, am wenigsten dem Joseph oder der

Maria
*) Luc. 2, 52.
Q 2

XXXVII. Betrachtung.
die frühe Reife ſeines Verſtandes, das richtige und
tiefforſchende in ſeinen Antworten. Ja, ſeine Eltern,
die ihn bisher ängſtlich und vergeblich unter der gan-
zen Reiſegeſellſchaft geſucht hatten, erſtaunten nicht
wenig, als ſie ihn mitten unter den Lehrern ſo be-
ſchäftiget antrafen, weil ſie ihn grade da am wenig-
ſten geſucht hätten. Der Evangeliſt ſetzt deswegen
auch ausdrücklich hinzu: er nahm zu an Weisheit.*)
Seine Einſichten nahmen alſo mit ſeinem Alter zu;
und ſo wie das Wachsthum ſeines Körpers ſichtbar
wurde, eben ſo war es auch die Ausbildung ſeiner
Seelenkräfte. Ob nun gleich das Wachsthum ſei-
ner Einſichten ganz außerordentlich war, obgleich
ſeine Kenntniſſe nicht blos das Werk der Kunſt und
des Fleißes waren, ob wir ſie gleich als unmittelbare
Gaben Gottes anzuſehen haben; ſo iſt es doch ſehr
wahrſcheinlich, daß er ſelbſt durch eigene Uebung und
Anſtrengung dazu beygetragen habe. Uebungen die-
ſer Art waren für die menſchliche Seele Jeſu ſehr
nöthig; auch ſie mußte nach und nach zur Erkennt-
niß der Religionswahrheiten gelangen; mußte mit
der Denkungsart und mit den Meynungen der Juden
bekannt werden, um ſie einſt zu verbeſſern, und ei-
ne richtigere Lehre unter dieſem Volcke einzuführen.
Jeſus hatte aber ſeine Einſichten keinen damaligen
jüdiſchen Lehrer, am wenigſten dem Joſeph oder der

Maria
*) Luc. 2, 52.
Q 2
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[243/0269] XXXVII. Betrachtung. die frühe Reife ſeines Verſtandes, das richtige und tiefforſchende in ſeinen Antworten. Ja, ſeine Eltern, die ihn bisher ängſtlich und vergeblich unter der gan- zen Reiſegeſellſchaft geſucht hatten, erſtaunten nicht wenig, als ſie ihn mitten unter den Lehrern ſo be- ſchäftiget antrafen, weil ſie ihn grade da am wenig- ſten geſucht hätten. Der Evangeliſt ſetzt deswegen auch ausdrücklich hinzu: er nahm zu an Weisheit. *) Seine Einſichten nahmen alſo mit ſeinem Alter zu; und ſo wie das Wachsthum ſeines Körpers ſichtbar wurde, eben ſo war es auch die Ausbildung ſeiner Seelenkräfte. Ob nun gleich das Wachsthum ſei- ner Einſichten ganz außerordentlich war, obgleich ſeine Kenntniſſe nicht blos das Werk der Kunſt und des Fleißes waren, ob wir ſie gleich als unmittelbare Gaben Gottes anzuſehen haben; ſo iſt es doch ſehr wahrſcheinlich, daß er ſelbſt durch eigene Uebung und Anſtrengung dazu beygetragen habe. Uebungen die- ſer Art waren für die menſchliche Seele Jeſu ſehr nöthig; auch ſie mußte nach und nach zur Erkennt- niß der Religionswahrheiten gelangen; mußte mit der Denkungsart und mit den Meynungen der Juden bekannt werden, um ſie einſt zu verbeſſern, und ei- ne richtigere Lehre unter dieſem Volcke einzuführen. Jeſus hatte aber ſeine Einſichten keinen damaligen jüdiſchen Lehrer, am wenigſten dem Joſeph oder der Maria *) Luc. 2, 52. Q 2

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/269>, abgerufen am 25.11.2024.