Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXIII. Betrachtung.
Mitleiden, daß sie ihre Lebensmittel aufgezehrt hat-
ten, und daß sie dem drückendsten Mangel ausgesetzt
waren. Mit herzlicher Theilnehmung sprach er zu
seinen Schülern: mich jammert des Volks, denn sie
haben nun drey Tage bey mir verharret, und haben
nichts zu essen; und wenn ich sie ungegessen von mir
heim ließe gehen, würden sie auf dem Wege ver-
schmachten.
*) Er ließ es aber auch diesmal nicht
bey den Empfindungen des Mitleidens bewenden, son-
dern er sorgte für die dringenden Bedürfnisse des
Volks, durch ein wohlthätiges Wunder. Und wie
nahe gieng ihm nicht das sittliche Verderben seiner
Zeitgenossen! Welchen Schmerz empfand nicht sein
Herz, so oft er sahe, wie der große Haufe von seinen
Lehrern und Vorstehern irre geführt wurde! Wie
sehr ließ er sichs nicht angelegen seyn, die Sünder zur
Buße zu ruffen, den Armen und Elenden das Evan-
gelium zu predigen, die Traurigen zu trösten, die
Verlornen zu retten. Daher heißt es von ihm: da
er das Volk sahe, jammerte ihn dasselbige, denn sie
waren verschmachtet und zerstreuet, wie Schaafe,
die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen
Jüngern: die Erndte ist groß, aber wenig sind der
Arbeiter: darum bittet den Herrn der Erndte, daß
er Arbeiter in seine Erndte sende.
**)

Willst du nun auch, lieber Christ, dich wie
Jesus mit dem Fröhlichen freuen, und mit dem Wei-

nenden
*) Marc. 8, 2. 3.
**) Matth. 9, 36. 38-

XXIII. Betrachtung.
Mitleiden, daß ſie ihre Lebensmittel aufgezehrt hat-
ten, und daß ſie dem drückendſten Mangel ausgeſetzt
waren. Mit herzlicher Theilnehmung ſprach er zu
ſeinen Schülern: mich jammert des Volks, denn ſie
haben nun drey Tage bey mir verharret, und haben
nichts zu eſſen; und wenn ich ſie ungegeſſen von mir
heim ließe gehen, würden ſie auf dem Wege ver-
ſchmachten.
*) Er ließ es aber auch diesmal nicht
bey den Empfindungen des Mitleidens bewenden, ſon-
dern er ſorgte für die dringenden Bedürfniſſe des
Volks, durch ein wohlthätiges Wunder. Und wie
nahe gieng ihm nicht das ſittliche Verderben ſeiner
Zeitgenoſſen! Welchen Schmerz empfand nicht ſein
Herz, ſo oft er ſahe, wie der große Haufe von ſeinen
Lehrern und Vorſtehern irre geführt wurde! Wie
ſehr ließ er ſichs nicht angelegen ſeyn, die Sünder zur
Buße zu ruffen, den Armen und Elenden das Evan-
gelium zu predigen, die Traurigen zu tröſten, die
Verlornen zu retten. Daher heißt es von ihm: da
er das Volk ſahe, jammerte ihn daſſelbige, denn ſie
waren verſchmachtet und zerſtreuet, wie Schaafe,
die keinen Hirten haben. Da ſprach er zu ſeinen
Jüngern: die Erndte iſt groß, aber wenig ſind der
Arbeiter: darum bittet den Herrn der Erndte, daß
er Arbeiter in ſeine Erndte ſende.
**)

Willſt du nun auch, lieber Chriſt, dich wie
Jeſus mit dem Fröhlichen freuen, und mit dem Wei-

nenden
*) Marc. 8, 2. 3.
**) Matth. 9, 36. 38-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0176" n="150"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXIII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
Mitleiden, daß &#x017F;ie ihre Lebensmittel aufgezehrt hat-<lb/>
ten, und daß &#x017F;ie dem drückend&#x017F;ten Mangel ausge&#x017F;etzt<lb/>
waren. Mit herzlicher Theilnehmung &#x017F;prach er zu<lb/>
&#x017F;einen Schülern: <hi rendition="#fr">mich jammert des Volks, denn &#x017F;ie<lb/>
haben nun drey Tage bey mir verharret, und haben<lb/>
nichts zu e&#x017F;&#x017F;en; und wenn ich &#x017F;ie ungege&#x017F;&#x017F;en von mir<lb/>
heim ließe gehen, würden &#x017F;ie auf dem Wege ver-<lb/>
&#x017F;chmachten.</hi><note place="foot" n="*)">Marc. 8, 2. 3.</note> Er ließ es aber auch diesmal nicht<lb/>
bey den Empfindungen des Mitleidens bewenden, &#x017F;on-<lb/>
dern er &#x017F;orgte für die dringenden Bedürfni&#x017F;&#x017F;e des<lb/>
Volks, durch ein wohlthätiges Wunder. Und wie<lb/>
nahe gieng ihm nicht das &#x017F;ittliche Verderben &#x017F;einer<lb/>
Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en! Welchen Schmerz empfand nicht &#x017F;ein<lb/>
Herz, &#x017F;o oft er &#x017F;ahe, wie der große Haufe von &#x017F;einen<lb/>
Lehrern und Vor&#x017F;tehern irre geführt wurde! Wie<lb/>
&#x017F;ehr ließ er &#x017F;ichs nicht angelegen &#x017F;eyn, die Sünder zur<lb/>
Buße zu ruffen, den Armen und Elenden das Evan-<lb/>
gelium zu predigen, die Traurigen zu trö&#x017F;ten, die<lb/>
Verlornen zu retten. Daher heißt es von ihm: <hi rendition="#fr">da<lb/>
er das Volk &#x017F;ahe, jammerte ihn da&#x017F;&#x017F;elbige, denn &#x017F;ie<lb/>
waren ver&#x017F;chmachtet und zer&#x017F;treuet, wie Schaafe,<lb/>
die keinen Hirten haben. Da &#x017F;prach er zu &#x017F;einen<lb/>
Jüngern: die Erndte i&#x017F;t groß, aber wenig &#x017F;ind der<lb/>
Arbeiter: darum bittet den Herrn der Erndte, daß<lb/>
er Arbeiter in &#x017F;eine Erndte &#x017F;ende.</hi><note place="foot" n="**)">Matth. 9, 36. 38-</note></p><lb/>
          <p>Will&#x017F;t du nun auch, lieber Chri&#x017F;t, dich wie<lb/>
Je&#x017F;us mit dem Fröhlichen freuen, und mit dem Wei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nenden</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0176] XXIII. Betrachtung. Mitleiden, daß ſie ihre Lebensmittel aufgezehrt hat- ten, und daß ſie dem drückendſten Mangel ausgeſetzt waren. Mit herzlicher Theilnehmung ſprach er zu ſeinen Schülern: mich jammert des Volks, denn ſie haben nun drey Tage bey mir verharret, und haben nichts zu eſſen; und wenn ich ſie ungegeſſen von mir heim ließe gehen, würden ſie auf dem Wege ver- ſchmachten. *) Er ließ es aber auch diesmal nicht bey den Empfindungen des Mitleidens bewenden, ſon- dern er ſorgte für die dringenden Bedürfniſſe des Volks, durch ein wohlthätiges Wunder. Und wie nahe gieng ihm nicht das ſittliche Verderben ſeiner Zeitgenoſſen! Welchen Schmerz empfand nicht ſein Herz, ſo oft er ſahe, wie der große Haufe von ſeinen Lehrern und Vorſtehern irre geführt wurde! Wie ſehr ließ er ſichs nicht angelegen ſeyn, die Sünder zur Buße zu ruffen, den Armen und Elenden das Evan- gelium zu predigen, die Traurigen zu tröſten, die Verlornen zu retten. Daher heißt es von ihm: da er das Volk ſahe, jammerte ihn daſſelbige, denn ſie waren verſchmachtet und zerſtreuet, wie Schaafe, die keinen Hirten haben. Da ſprach er zu ſeinen Jüngern: die Erndte iſt groß, aber wenig ſind der Arbeiter: darum bittet den Herrn der Erndte, daß er Arbeiter in ſeine Erndte ſende. **) Willſt du nun auch, lieber Chriſt, dich wie Jeſus mit dem Fröhlichen freuen, und mit dem Wei- nenden *) Marc. 8, 2. 3. **) Matth. 9, 36. 38-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/176
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/176>, abgerufen am 23.11.2024.