Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXIII. Betrachtung. wohl gieng, so wie man nirgends die geringste Spurdes Neides und des Mißvergnügens über das Glück anderer bey ihm fand: eben so nahm er auch durch thätiges Mitleiden Antheil an den traurigen Schick- salen seiner Zeitgenossen. Nie gieng er ohne Rüh- rung und ohne die Empfindungen des Mitleidens vor einem Elenden vorüber. Ueberall äußerte er eine edle Empfindsamkeit des Herzens, ein tiefes wirksa- mes Mitleiden gegen Elende, und einen innigen Schmerz über den verderbten Zustand seiner Lands- leute. Er will durch die Stadt Nain reisen, und bey seiner Ankunft trägt man einen Jüngling heraus, der in der Blüte seines Lebens ein Raub des Todes geworden war. Er sieht die gebeugte Mutter über den Verlust ihres Sohnes, der der Trost ihres Le- bens, die Stütze ihres Alters seyn sollte, heisse Thrä- nen vergiessen, und dieser Anblick rührt sein Herz, das an sanfte, liebreiche Empfindungen gewöhnt war. Er tröstet nicht nur die bekümmerte Mutter, indem er mit dem Tone des Mitleids zu ihr sprach: weine nicht! sondern er ruft den Erblaßten auch wieder ins Leben zurück, und verwandelte so recht augenblicklich Traurigkeit in Freude.*) Ein andermal, als eine große Volksmenge von mehrern tausenden bey ihm versammelt war, und schon drey Tage bey ihm als Zuhörer ausgeharrt hatten; so sahe er mit innigsten Mit- *) Luc. 7, 13. K 3
XXIII. Betrachtung. wohl gieng, ſo wie man nirgends die geringſte Spurdes Neides und des Mißvergnügens über das Glück anderer bey ihm fand: eben ſo nahm er auch durch thätiges Mitleiden Antheil an den traurigen Schick- ſalen ſeiner Zeitgenoſſen. Nie gieng er ohne Rüh- rung und ohne die Empfindungen des Mitleidens vor einem Elenden vorüber. Ueberall äußerte er eine edle Empfindſamkeit des Herzens, ein tiefes wirkſa- mes Mitleiden gegen Elende, und einen innigen Schmerz über den verderbten Zuſtand ſeiner Lands- leute. Er will durch die Stadt Nain reiſen, und bey ſeiner Ankunft trägt man einen Jüngling heraus, der in der Blüte ſeines Lebens ein Raub des Todes geworden war. Er ſieht die gebeugte Mutter über den Verluſt ihres Sohnes, der der Troſt ihres Le- bens, die Stütze ihres Alters ſeyn ſollte, heiſſe Thrä- nen vergieſſen, und dieſer Anblick rührt ſein Herz, das an ſanfte, liebreiche Empfindungen gewöhnt war. Er tröſtet nicht nur die bekümmerte Mutter, indem er mit dem Tone des Mitleids zu ihr ſprach: weine nicht! ſondern er ruft den Erblaßten auch wieder ins Leben zurück, und verwandelte ſo recht augenblicklich Traurigkeit in Freude.*) Ein andermal, als eine große Volksmenge von mehrern tauſenden bey ihm verſammelt war, und ſchon drey Tage bey ihm als Zuhörer ausgeharrt hatten; ſo ſahe er mit innigſten Mit- *) Luc. 7, 13. K 3
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XXIII. Betrachtung.
wohl gieng, ſo wie man nirgends die geringſte Spur
des Neides und des Mißvergnügens über das Glück
anderer bey ihm fand: eben ſo nahm er auch durch
thätiges Mitleiden Antheil an den traurigen Schick-
ſalen ſeiner Zeitgenoſſen. Nie gieng er ohne Rüh-
rung und ohne die Empfindungen des Mitleidens vor
einem Elenden vorüber. Ueberall äußerte er eine
edle Empfindſamkeit des Herzens, ein tiefes wirkſa-
mes Mitleiden gegen Elende, und einen innigen
Schmerz über den verderbten Zuſtand ſeiner Lands-
leute. Er will durch die Stadt Nain reiſen, und
bey ſeiner Ankunft trägt man einen Jüngling heraus,
der in der Blüte ſeines Lebens ein Raub des Todes
geworden war. Er ſieht die gebeugte Mutter über
den Verluſt ihres Sohnes, der der Troſt ihres Le-
bens, die Stütze ihres Alters ſeyn ſollte, heiſſe Thrä-
nen vergieſſen, und dieſer Anblick rührt ſein Herz,
das an ſanfte, liebreiche Empfindungen gewöhnt war.
Er tröſtet nicht nur die bekümmerte Mutter, indem
er mit dem Tone des Mitleids zu ihr ſprach: weine
nicht! ſondern er ruft den Erblaßten auch wieder ins
Leben zurück, und verwandelte ſo recht augenblicklich
Traurigkeit in Freude. *) Ein andermal, als eine
große Volksmenge von mehrern tauſenden bey ihm
verſammelt war, und ſchon drey Tage bey ihm als
Zuhörer ausgeharrt hatten; ſo ſahe er mit innigſten
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*) Luc. 7, 13.
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