gewesen um diese Wahrheiten. Sie hatten ihn so ganz erfüllt. So ganz. In einer großen Stunde hatte er sie herausgeschüttelt und aufs Papier gesetzt mit dem glühenden Enthusiasmus des Triumphators, der überwunden hat, der wunschlos geworden ist. Wunschlos! Wunschlos? Oh nein! Nicht wunsch- los. Denn er hatte ja weitergelebt. Er hatte es ja nach dieser gewaltigen Vereinheitlichung der Er- kenntniß doch vermocht, weiterzuleben. Und was heißt "weiterleben" anderes, als Zeit, Luft, Gelegen- heit finden, tausend neue Wünsche zu gebären und nach ihrer Erfüllung zu trachten? Das hatte er gethan. Und es war ihm auch gar nicht so schwer gewor- den, das zu thun. Als die Begeisterung der Stunde vorüber, als das Seherauge sich geschlossen, hatte ihn die klammernde Nesselwelt der kleinen Alltagspflichten wieder eng und compromißlüstern gestimmt. Das "Verrath" an sich zu nennen -- nun! ein Schwärmer konnte sich diesen tauben, unfruchtbaren Luxus wohl gestatten. War er aber ein Schwärmer? War er's geblieben? Kaum. Er war doch in Vielem recht praktisch, recht positiv geworden. Er hatte doch wieder Gefallen daran gefunden, tiefinnerste Genug- thuung, von rothen Frauenlippen reife Küsse zu pflücken, Frauenreize mit vollendeter Virtuosität, mit feinster ästhetischer Differenzirtheit zu genießen. Nein! die Psalmen und Dithyramben, die der große Lyriker, der Frühling, zu singen wußte, sie tönten nicht wirkungslos an ihm vorüber. Er verstand die einfach-üppige, massive Epik des Sommers .. und
geweſen um dieſe Wahrheiten. Sie hatten ihn ſo ganz erfüllt. So ganz. In einer großen Stunde hatte er ſie herausgeſchüttelt und aufs Papier geſetzt mit dem glühenden Enthuſiasmus des Triumphators, der überwunden hat, der wunſchlos geworden iſt. Wunſchlos! Wunſchlos? Oh nein! Nicht wunſch- los. Denn er hatte ja weitergelebt. Er hatte es ja nach dieſer gewaltigen Vereinheitlichung der Er- kenntniß doch vermocht, weiterzuleben. Und was heißt „weiterleben“ anderes, als Zeit, Luft, Gelegen- heit finden, tauſend neue Wünſche zu gebären und nach ihrer Erfüllung zu trachten? Das hatte er gethan. Und es war ihm auch gar nicht ſo ſchwer gewor- den, das zu thun. Als die Begeiſterung der Stunde vorüber, als das Seherauge ſich geſchloſſen, hatte ihn die klammernde Neſſelwelt der kleinen Alltagspflichten wieder eng und compromißlüſtern geſtimmt. Das „Verrath“ an ſich zu nennen — nun! ein Schwärmer konnte ſich dieſen tauben, unfruchtbaren Luxus wohl geſtatten. War er aber ein Schwärmer? War er's geblieben? Kaum. Er war doch in Vielem recht praktiſch, recht poſitiv geworden. Er hatte doch wieder Gefallen daran gefunden, tiefinnerſte Genug- thuung, von rothen Frauenlippen reife Küſſe zu pflücken, Frauenreize mit vollendeter Virtuoſität, mit feinſter äſthetiſcher Differenzirtheit zu genießen. Nein! die Pſalmen und Dithyramben, die der große Lyriker, der Frühling, zu ſingen wußte, ſie tönten nicht wirkungslos an ihm vorüber. Er verſtand die einfach-üppige, maſſive Epik des Sommers .. und
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0368"n="360"/>
geweſen um dieſe Wahrheiten. Sie hatten ihn ſo<lb/>
ganz erfüllt. So ganz. In einer großen Stunde<lb/>
hatte er ſie herausgeſchüttelt und aufs Papier geſetzt<lb/>
mit dem glühenden Enthuſiasmus des Triumphators,<lb/>
der <hirendition="#g">überwunden</hi> hat, der <hirendition="#g">wunſchlos</hi> geworden<lb/>
iſt. Wunſchlos! Wunſchlos? Oh nein! Nicht wunſch-<lb/>
los. Denn er hatte ja weitergelebt. Er hatte es<lb/>
ja nach dieſer gewaltigen Vereinheitlichung der Er-<lb/>
kenntniß <hirendition="#g">doch</hi> vermocht, weiterzuleben. Und was<lb/>
heißt „weiterleben“ anderes, als Zeit, Luft, Gelegen-<lb/>
heit finden, tauſend neue Wünſche zu gebären und nach<lb/>
ihrer Erfüllung zu trachten? Das hatte er gethan.<lb/>
Und es war ihm auch gar nicht ſo ſchwer gewor-<lb/>
den, das zu thun. Als die Begeiſterung der Stunde<lb/>
vorüber, als das Seherauge ſich geſchloſſen, hatte ihn<lb/>
die klammernde Neſſelwelt der kleinen Alltagspflichten<lb/>
wieder eng und compromißlüſtern geſtimmt. Das<lb/>„Verrath“ an ſich zu nennen — nun! ein Schwärmer<lb/>
konnte ſich dieſen tauben, unfruchtbaren Luxus wohl<lb/>
geſtatten. War er aber ein Schwärmer? War er's<lb/><hirendition="#g">geblieben</hi>? Kaum. Er war doch in Vielem recht<lb/>
praktiſch, recht poſitiv geworden. Er hatte doch<lb/>
wieder Gefallen daran gefunden, tiefinnerſte Genug-<lb/>
thuung, von rothen Frauenlippen reife Küſſe zu<lb/>
pflücken, Frauenreize mit vollendeter Virtuoſität,<lb/>
mit feinſter äſthetiſcher Differenzirtheit zu genießen.<lb/>
Nein! die Pſalmen und Dithyramben, die der große<lb/>
Lyriker, der Frühling, zu ſingen wußte, ſie tönten<lb/>
nicht wirkungslos an ihm vorüber. Er verſtand die<lb/>
einfach-üppige, maſſive Epik des Sommers .. und<lb/></p></div></body></text></TEI>
[360/0368]
geweſen um dieſe Wahrheiten. Sie hatten ihn ſo
ganz erfüllt. So ganz. In einer großen Stunde
hatte er ſie herausgeſchüttelt und aufs Papier geſetzt
mit dem glühenden Enthuſiasmus des Triumphators,
der überwunden hat, der wunſchlos geworden
iſt. Wunſchlos! Wunſchlos? Oh nein! Nicht wunſch-
los. Denn er hatte ja weitergelebt. Er hatte es
ja nach dieſer gewaltigen Vereinheitlichung der Er-
kenntniß doch vermocht, weiterzuleben. Und was
heißt „weiterleben“ anderes, als Zeit, Luft, Gelegen-
heit finden, tauſend neue Wünſche zu gebären und nach
ihrer Erfüllung zu trachten? Das hatte er gethan.
Und es war ihm auch gar nicht ſo ſchwer gewor-
den, das zu thun. Als die Begeiſterung der Stunde
vorüber, als das Seherauge ſich geſchloſſen, hatte ihn
die klammernde Neſſelwelt der kleinen Alltagspflichten
wieder eng und compromißlüſtern geſtimmt. Das
„Verrath“ an ſich zu nennen — nun! ein Schwärmer
konnte ſich dieſen tauben, unfruchtbaren Luxus wohl
geſtatten. War er aber ein Schwärmer? War er's
geblieben? Kaum. Er war doch in Vielem recht
praktiſch, recht poſitiv geworden. Er hatte doch
wieder Gefallen daran gefunden, tiefinnerſte Genug-
thuung, von rothen Frauenlippen reife Küſſe zu
pflücken, Frauenreize mit vollendeter Virtuoſität,
mit feinſter äſthetiſcher Differenzirtheit zu genießen.
Nein! die Pſalmen und Dithyramben, die der große
Lyriker, der Frühling, zu ſingen wußte, ſie tönten
nicht wirkungslos an ihm vorüber. Er verſtand die
einfach-üppige, maſſive Epik des Sommers .. und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/368>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.