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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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fremdung. Wie habe ich -- nun, da ich am Ende
stehe, sehe ich Alles doppelt scharf und doppelt deut-
lich! -- wie habe ich von der ersten Stunde an,
da ich die Flügel meines Geistes zu lüften versuchte,
mich einengen und umdrängen lassen müssen von
dem gemeinen, landläufigen, kalten, nüchternen Regel-
werke der Welt! Nun da ich frei wurde, schiebt
die Vergangenheit ihre langen, tastenden Finger nach
in die Gegenwart -- in die Zukunft, die ich mir
darum vorenthalten will. Ja! Ich sterbe an der
Fülle der "Sünden", zu denen mich die Vergangen-
heit gezwungen
hat. -- Und diese "Sünden" ver-
dunkeln und verqualmen mir die Gegenwart, und ihr
schwarzes Nachtgewölk zieht mir nach in die Bezirke
meiner Zukunft -- zöge mir nach -- ich verspüre
es an der Schwere meines Athems! -- wollte ich
mich eben sclavisch an eine neue Zukunft verkaufen.
Aber ich habe es satt, gründlich satt, dieses Sichhin-
schleppen an dürren, nackten, morschen Spalieren.
Ich habe es satt, immer weiter den Hymnus mit-
zugröhlen, der das Fragment der bedingten Zeit-
lichkeit apotheosirt! Den großen, allmächtigen Ring
schließen! Schließen! Soll meine Seele weiter
Nichts sein, denn ein Heerd, darauf die Flammen
der durchschauten Unzulänglichkeit tanzen? Soll
das der höchste Triumph des bohrenden Menschen-
geistes sein, daß er in letzter Instanz seine Un-
zurechnungsfähigkeit, seine Unzusammenfas-
sungsfähigkeit
constatirt? Soll ich immer
und immer wieder auf dem dürren, ausgedienten

fremdung. Wie habe ich — nun, da ich am Ende
ſtehe, ſehe ich Alles doppelt ſcharf und doppelt deut-
lich! — wie habe ich von der erſten Stunde an,
da ich die Flügel meines Geiſtes zu lüften verſuchte,
mich einengen und umdrängen laſſen müſſen von
dem gemeinen, landläufigen, kalten, nüchternen Regel-
werke der Welt! Nun da ich frei wurde, ſchiebt
die Vergangenheit ihre langen, taſtenden Finger nach
in die Gegenwart — in die Zukunft, die ich mir
darum vorenthalten will. Ja! Ich ſterbe an der
Fülle der „Sünden“, zu denen mich die Vergangen-
heit gezwungen
hat. — Und dieſe „Sünden“ ver-
dunkeln und verqualmen mir die Gegenwart, und ihr
ſchwarzes Nachtgewölk zieht mir nach in die Bezirke
meiner Zukunft — zöge mir nach — ich verſpüre
es an der Schwere meines Athems! — wollte ich
mich eben ſclaviſch an eine neue Zukunft verkaufen.
Aber ich habe es ſatt, gründlich ſatt, dieſes Sichhin-
ſchleppen an dürren, nackten, morſchen Spalieren.
Ich habe es ſatt, immer weiter den Hymnus mit-
zugröhlen, der das Fragment der bedingten Zeit-
lichkeit apotheoſirt! Den großen, allmächtigen Ring
ſchließen! Schließen! Soll meine Seele weiter
Nichts ſein, denn ein Heerd, darauf die Flammen
der durchſchauten Unzulänglichkeit tanzen? Soll
das der höchſte Triumph des bohrenden Menſchen-
geiſtes ſein, daß er in letzter Inſtanz ſeine Un-
zurechnungsfähigkeit, ſeine Unzuſammenfaſ-
ſungsfähigkeit
conſtatirt? Soll ich immer
und immer wieder auf dem dürren, ausgedienten

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[354/0362] fremdung. Wie habe ich — nun, da ich am Ende ſtehe, ſehe ich Alles doppelt ſcharf und doppelt deut- lich! — wie habe ich von der erſten Stunde an, da ich die Flügel meines Geiſtes zu lüften verſuchte, mich einengen und umdrängen laſſen müſſen von dem gemeinen, landläufigen, kalten, nüchternen Regel- werke der Welt! Nun da ich frei wurde, ſchiebt die Vergangenheit ihre langen, taſtenden Finger nach in die Gegenwart — in die Zukunft, die ich mir darum vorenthalten will. Ja! Ich ſterbe an der Fülle der „Sünden“, zu denen mich die Vergangen- heit gezwungen hat. — Und dieſe „Sünden“ ver- dunkeln und verqualmen mir die Gegenwart, und ihr ſchwarzes Nachtgewölk zieht mir nach in die Bezirke meiner Zukunft — zöge mir nach — ich verſpüre es an der Schwere meines Athems! — wollte ich mich eben ſclaviſch an eine neue Zukunft verkaufen. Aber ich habe es ſatt, gründlich ſatt, dieſes Sichhin- ſchleppen an dürren, nackten, morſchen Spalieren. Ich habe es ſatt, immer weiter den Hymnus mit- zugröhlen, der das Fragment der bedingten Zeit- lichkeit apotheoſirt! Den großen, allmächtigen Ring ſchließen! Schließen! Soll meine Seele weiter Nichts ſein, denn ein Heerd, darauf die Flammen der durchſchauten Unzulänglichkeit tanzen? Soll das der höchſte Triumph des bohrenden Menſchen- geiſtes ſein, daß er in letzter Inſtanz ſeine Un- zurechnungsfähigkeit, ſeine Unzuſammenfaſ- ſungsfähigkeit conſtatirt? Soll ich immer und immer wieder auf dem dürren, ausgedienten

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/362>, abgerufen am 25.11.2024.