Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

Bild:
<< vorherige Seite

und Sklave zugleich. Das darf mich wurmen und
freuen, denn ich habe doch immer gesiegt, wenn auch
gleichsam nur negativ. Aber vielleicht sind darum
die Schmerzen darüber, daß ich den Einfluß nicht
nach meinem Ermessen tilgen kann, nur um so
heftigere ...

Organismus ... System ..: Alles gesetz-
mäßig Entwickelte, Zusammengeschlossene, Abgerundete
hat größere Lebenskräfte in sich, als das Verzettelte,
Aphoristische. Aber systematische Ordnung und
innere Harmonie, Schönheit organischen Zwanges
und natürlicher Einheit sind nicht immer dasselbe.
Lücken werden stets aus dem Wesen aller Dinge
heraus nothwendige, gleichsam wiederum negative
Verknüpfungsglieder sein. Und ist nicht das erste
Wesensmoment der Harmonie auch gegeben in dem
Zusammenströmen aller Tendenzen nach einem
Mittelpunkte? --

Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße,
jähe Schmerzen schießen durch meine Seele, und die
Stacheln einer zähen Reue drücken sich tief, tief ein.
Soll ich das Leben anklagen? Soll ich mich
schwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Klein-
lichen und Gemeinen hafteten meine Augen, und ich
ließ in stiller Ergebenheit unaufhörlich Tage um Tage
jenen dünnen, feinen, grauen Staub auf mich nieder-
rieseln, den das blöde, monotone, im Banne des
Augenblicks befangene Alltagsleben aufscheucht, in
gewaltigen Wogen durch die Lüfte bläst und schiebt
und über Alles sich ausstreuen läßt ... Wenige

und Sklave zugleich. Das darf mich wurmen und
freuen, denn ich habe doch immer geſiegt, wenn auch
gleichſam nur negativ. Aber vielleicht ſind darum
die Schmerzen darüber, daß ich den Einfluß nicht
nach meinem Ermeſſen tilgen kann, nur um ſo
heftigere ...

Organismus ... Syſtem ..: Alles geſetz-
mäßig Entwickelte, Zuſammengeſchloſſene, Abgerundete
hat größere Lebenskräfte in ſich, als das Verzettelte,
Aphoriſtiſche. Aber ſyſtematiſche Ordnung und
innere Harmonie, Schönheit organiſchen Zwanges
und natürlicher Einheit ſind nicht immer daſſelbe.
Lücken werden ſtets aus dem Weſen aller Dinge
heraus nothwendige, gleichſam wiederum negative
Verknüpfungsglieder ſein. Und iſt nicht das erſte
Weſensmoment der Harmonie auch gegeben in dem
Zuſammenſtrömen aller Tendenzen nach einem
Mittelpunkte? —

Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße,
jähe Schmerzen ſchießen durch meine Seele, und die
Stacheln einer zähen Reue drücken ſich tief, tief ein.
Soll ich das Leben anklagen? Soll ich mich
ſchwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Klein-
lichen und Gemeinen hafteten meine Augen, und ich
ließ in ſtiller Ergebenheit unaufhörlich Tage um Tage
jenen dünnen, feinen, grauen Staub auf mich nieder-
rieſeln, den das blöde, monotone, im Banne des
Augenblicks befangene Alltagsleben aufſcheucht, in
gewaltigen Wogen durch die Lüfte bläſt und ſchiebt
und über Alles ſich ausſtreuen läßt ... Wenige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0356" n="348"/>
und Sklave zugleich. Das darf mich wurmen und<lb/>
freuen, denn ich habe doch immer ge&#x017F;iegt, wenn auch<lb/>
gleich&#x017F;am nur negativ. Aber vielleicht &#x017F;ind darum<lb/>
die Schmerzen darüber, daß ich den Einfluß nicht<lb/>
nach meinem Erme&#x017F;&#x017F;en tilgen kann, nur um &#x017F;o<lb/>
heftigere ...</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Organismus ... Sy&#x017F;tem ..</hi>: Alles ge&#x017F;etz-<lb/>
mäßig Entwickelte, Zu&#x017F;ammenge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene, Abgerundete<lb/>
hat größere Lebenskräfte in &#x017F;ich, als das Verzettelte,<lb/>
Aphori&#x017F;ti&#x017F;che. Aber &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Ordnung und<lb/>
innere Harmonie, Schönheit organi&#x017F;chen Zwanges<lb/>
und natürlicher Einheit &#x017F;ind nicht immer da&#x017F;&#x017F;elbe.<lb/><hi rendition="#g">Lücken</hi> werden &#x017F;tets aus dem We&#x017F;en aller Dinge<lb/>
heraus nothwendige, gleich&#x017F;am wiederum negative<lb/>
Verknüpfungsglieder &#x017F;ein. Und i&#x017F;t nicht das er&#x017F;te<lb/>
We&#x017F;ensmoment der Harmonie auch gegeben in dem<lb/>
Zu&#x017F;ammen&#x017F;trömen aller Tendenzen nach <hi rendition="#g">einem</hi><lb/>
Mittelpunkte? &#x2014;</p><lb/>
        <p>Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße,<lb/>
jähe Schmerzen &#x017F;chießen durch meine Seele, und die<lb/>
Stacheln einer zähen Reue drücken &#x017F;ich tief, tief ein.<lb/>
Soll ich das Leben anklagen? Soll ich mich<lb/>
&#x017F;chwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Klein-<lb/>
lichen und Gemeinen hafteten meine Augen, und ich<lb/>
ließ in &#x017F;tiller Ergebenheit unaufhörlich Tage um Tage<lb/>
jenen dünnen, feinen, grauen Staub auf mich nieder-<lb/>
rie&#x017F;eln, den das blöde, monotone, im Banne des<lb/>
Augenblicks befangene Alltagsleben auf&#x017F;cheucht, in<lb/>
gewaltigen Wogen durch die Lüfte blä&#x017F;t und &#x017F;chiebt<lb/>
und über <hi rendition="#g">Alles</hi> &#x017F;ich aus&#x017F;treuen läßt ... Wenige<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0356] und Sklave zugleich. Das darf mich wurmen und freuen, denn ich habe doch immer geſiegt, wenn auch gleichſam nur negativ. Aber vielleicht ſind darum die Schmerzen darüber, daß ich den Einfluß nicht nach meinem Ermeſſen tilgen kann, nur um ſo heftigere ... Organismus ... Syſtem ..: Alles geſetz- mäßig Entwickelte, Zuſammengeſchloſſene, Abgerundete hat größere Lebenskräfte in ſich, als das Verzettelte, Aphoriſtiſche. Aber ſyſtematiſche Ordnung und innere Harmonie, Schönheit organiſchen Zwanges und natürlicher Einheit ſind nicht immer daſſelbe. Lücken werden ſtets aus dem Weſen aller Dinge heraus nothwendige, gleichſam wiederum negative Verknüpfungsglieder ſein. Und iſt nicht das erſte Weſensmoment der Harmonie auch gegeben in dem Zuſammenſtrömen aller Tendenzen nach einem Mittelpunkte? — Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße, jähe Schmerzen ſchießen durch meine Seele, und die Stacheln einer zähen Reue drücken ſich tief, tief ein. Soll ich das Leben anklagen? Soll ich mich ſchwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Klein- lichen und Gemeinen hafteten meine Augen, und ich ließ in ſtiller Ergebenheit unaufhörlich Tage um Tage jenen dünnen, feinen, grauen Staub auf mich nieder- rieſeln, den das blöde, monotone, im Banne des Augenblicks befangene Alltagsleben aufſcheucht, in gewaltigen Wogen durch die Lüfte bläſt und ſchiebt und über Alles ſich ausſtreuen läßt ... Wenige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/356
Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/356>, abgerufen am 12.05.2024.