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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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hier sind sie. All' unser Wünschen und Wollen ge-
hört der Zukunft -- wenigstens in unseren besten
und größten Stunden -- aber unserem Können
giebt Richtung und Ziel so oft nur die ererbte
Vergangenheit. In diesem Zwiespalt werden wir
an uns irre, zweifeln ... verzweifeln wir hundert
und tausend Mal ... und kommen schließlich dazu,
einen schrankenlosen Individualismus zu kultiviren,
einen Individualismus, der im Grunde doch nur ein
verunglückter, versetzter Sozialismus ist ... der aber
zugleich die dumme Angewohnheit hat, daß er uns
zerfleischt, aushöhlt, entnervt ... Aber wir fühlen
so tief und sehen so scharf gerade in den Stunden,
wo wir spüren, daß Alles in uns auseinanderreißt
und aufbricht -- und alle Irrthümer, Widersprüche
und Vorurtheile der Welt erkennen wir nie klarer
und bedauern wir nie aufrichtiger, als gerade in
diesen Stunden, wo die innere Zerklüftung am hef-
tigsten brennt. Da sind wir zugleich Besiegte und
Kämpfer -- Kämpfer mit Siegeshoffnungen und An-
wartschaften auf Zukunftstriumphe. Nun ja! Wir
werden unter unsäglichen Schmerzen zwischen dem
Alten und dem Neuen hin- und hergezerrt ... aber
wir denken in diesen schweren Stunden doch darüber
nach, wie wir das Kommende am Schärfsten erfassen
... wie wir das "Moderne" erschöpfend definiren
-- und wir erstaunen freudig über die Fülle der
uns zuströmenden Begriffe, die im Wörterbuche der
Zukunft einen anderen Werth, einen anderen Inhalt,
eine andere Erklärung besitzen werden. Und sind

hier ſind ſie. All' unſer Wünſchen und Wollen ge-
hört der Zukunft — wenigſtens in unſeren beſten
und größten Stunden — aber unſerem Können
giebt Richtung und Ziel ſo oft nur die ererbte
Vergangenheit. In dieſem Zwieſpalt werden wir
an uns irre, zweifeln ... verzweifeln wir hundert
und tauſend Mal ... und kommen ſchließlich dazu,
einen ſchrankenloſen Individualismus zu kultiviren,
einen Individualismus, der im Grunde doch nur ein
verunglückter, verſetzter Sozialismus iſt ... der aber
zugleich die dumme Angewohnheit hat, daß er uns
zerfleiſcht, aushöhlt, entnervt ... Aber wir fühlen
ſo tief und ſehen ſo ſcharf gerade in den Stunden,
wo wir ſpüren, daß Alles in uns auseinanderreißt
und aufbricht — und alle Irrthümer, Widerſprüche
und Vorurtheile der Welt erkennen wir nie klarer
und bedauern wir nie aufrichtiger, als gerade in
dieſen Stunden, wo die innere Zerklüftung am hef-
tigſten brennt. Da ſind wir zugleich Beſiegte und
Kämpfer — Kämpfer mit Siegeshoffnungen und An-
wartſchaften auf Zukunftstriumphe. Nun ja! Wir
werden unter unſäglichen Schmerzen zwiſchen dem
Alten und dem Neuen hin- und hergezerrt ... aber
wir denken in dieſen ſchweren Stunden doch darüber
nach, wie wir das Kommende am Schärfſten erfaſſen
... wie wir das „Moderne“ erſchöpfend definiren
— und wir erſtaunen freudig über die Fülle der
uns zuſtrömenden Begriffe, die im Wörterbuche der
Zukunft einen anderen Werth, einen anderen Inhalt,
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[234/0242] hier ſind ſie. All' unſer Wünſchen und Wollen ge- hört der Zukunft — wenigſtens in unſeren beſten und größten Stunden — aber unſerem Können giebt Richtung und Ziel ſo oft nur die ererbte Vergangenheit. In dieſem Zwieſpalt werden wir an uns irre, zweifeln ... verzweifeln wir hundert und tauſend Mal ... und kommen ſchließlich dazu, einen ſchrankenloſen Individualismus zu kultiviren, einen Individualismus, der im Grunde doch nur ein verunglückter, verſetzter Sozialismus iſt ... der aber zugleich die dumme Angewohnheit hat, daß er uns zerfleiſcht, aushöhlt, entnervt ... Aber wir fühlen ſo tief und ſehen ſo ſcharf gerade in den Stunden, wo wir ſpüren, daß Alles in uns auseinanderreißt und aufbricht — und alle Irrthümer, Widerſprüche und Vorurtheile der Welt erkennen wir nie klarer und bedauern wir nie aufrichtiger, als gerade in dieſen Stunden, wo die innere Zerklüftung am hef- tigſten brennt. Da ſind wir zugleich Beſiegte und Kämpfer — Kämpfer mit Siegeshoffnungen und An- wartſchaften auf Zukunftstriumphe. Nun ja! Wir werden unter unſäglichen Schmerzen zwiſchen dem Alten und dem Neuen hin- und hergezerrt ... aber wir denken in dieſen ſchweren Stunden doch darüber nach, wie wir das Kommende am Schärfſten erfaſſen ... wie wir das „Moderne“ erſchöpfend definiren — und wir erſtaunen freudig über die Fülle der uns zuſtrömenden Begriffe, die im Wörterbuche der Zukunft einen anderen Werth, einen anderen Inhalt, eine andere Erklärung beſitzen werden. Und ſind

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/242>, abgerufen am 25.11.2024.