"Nicht, Hedwig, so sind wir zwei Kinder der- selben Generation. Und wir müßten uns doch eigent- lich recht gut verstehen. Eine Fülle gleichartiger Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch sind wir so sehr entfernt von einander. Ich stehe ja viel mehr im fließenden Leben, als Du. Deine Heimath ist enger -- ich habe im Grunde keine Heimath mehr. So sollte ich keine Schranken spüren ... und spüre und finde allent- halben doch nur -- Schranken. Das ist ein Wider- spruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das Leben ist so wahnsinnig komplicirt. Und doch hat Jeder, der sich nur ein Bissel in's allgemeine Da- seinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte Alles ungeheuer einfach sein. Und -- ja! -- ja! -- es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer einfach -- wenn es nur Menschen auf der Welt gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menschen- thum in die Zwangsjacke einschnürender Formen und Vorurtheile versteckten ... Du bist am Morgen vom langen Schlafe aufgewacht und sinnst nach, welche Träume Dir in der Nacht erschienen waren. Die Erinnerung ist schroff und widerspenstig -- und Du findest keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir Beschlag ... und er zwingt Dich ganz in seinen engen und doch so weiten Kreis hinein. Da plötzlich löst ein zufälliges Bild, das sich Dir vor's Auge schiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erin- nerung an eine Traumscene aus ... und sie fliegt an Dir vorüber ... langsam und doch zu schnell.
„Nicht, Hedwig, ſo ſind wir zwei Kinder der- ſelben Generation. Und wir müßten uns doch eigent- lich recht gut verſtehen. Eine Fülle gleichartiger Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch ſind wir ſo ſehr entfernt von einander. Ich ſtehe ja viel mehr im fließenden Leben, als Du. Deine Heimath iſt enger — ich habe im Grunde keine Heimath mehr. So ſollte ich keine Schranken ſpüren ... und ſpüre und finde allent- halben doch nur — Schranken. Das iſt ein Wider- ſpruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das Leben iſt ſo wahnſinnig komplicirt. Und doch hat Jeder, der ſich nur ein Biſſel in's allgemeine Da- ſeinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte Alles ungeheuer einfach ſein. Und — ja! — ja! — es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer einfach — wenn es nur Menſchen auf der Welt gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menſchen- thum in die Zwangsjacke einſchnürender Formen und Vorurtheile verſteckten ... Du biſt am Morgen vom langen Schlafe aufgewacht und ſinnſt nach, welche Träume Dir in der Nacht erſchienen waren. Die Erinnerung iſt ſchroff und widerſpenſtig — und Du findeſt keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir Beſchlag ... und er zwingt Dich ganz in ſeinen engen und doch ſo weiten Kreis hinein. Da plötzlich löſt ein zufälliges Bild, das ſich Dir vor's Auge ſchiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erin- nerung an eine Traumſcene aus ... und ſie fliegt an Dir vorüber ... langſam und doch zu ſchnell.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0239"n="231"/><p>„Nicht, Hedwig, ſo ſind wir zwei Kinder der-<lb/>ſelben Generation. Und wir müßten uns doch eigent-<lb/>
lich recht gut verſtehen. Eine Fülle gleichartiger<lb/>
Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch<lb/>ſind wir ſo ſehr entfernt von einander. Ich<lb/>ſtehe ja viel mehr im fließenden Leben, als<lb/>
Du. Deine Heimath iſt enger — ich habe im<lb/>
Grunde keine Heimath mehr. So ſollte ich keine<lb/>
Schranken ſpüren ... und ſpüre und finde allent-<lb/>
halben doch nur — Schranken. Das iſt ein Wider-<lb/>ſpruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das<lb/>
Leben iſt ſo wahnſinnig komplicirt. Und doch hat<lb/>
Jeder, der ſich nur ein Biſſel in's allgemeine Da-<lb/>ſeinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte<lb/>
Alles ungeheuer einfach ſein. Und — ja! — ja!<lb/>— es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer<lb/>
einfach — wenn es nur <hirendition="#g">Menſchen</hi> auf der Welt<lb/>
gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menſchen-<lb/>
thum in die Zwangsjacke einſchnürender Formen und<lb/>
Vorurtheile verſteckten ... Du biſt am Morgen vom<lb/>
langen Schlafe aufgewacht und ſinnſt nach, welche<lb/>
Träume Dir in der Nacht erſchienen waren. Die<lb/>
Erinnerung iſt ſchroff und widerſpenſtig — und Du<lb/>
findeſt keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir<lb/>
Beſchlag ... und er zwingt Dich ganz in ſeinen<lb/>
engen und doch ſo weiten Kreis hinein. Da plötzlich<lb/>
löſt ein zufälliges Bild, das ſich Dir vor's Auge<lb/>ſchiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erin-<lb/>
nerung an eine Traumſcene aus ... und ſie fliegt<lb/>
an Dir vorüber ... langſam und doch zu ſchnell.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[231/0239]
„Nicht, Hedwig, ſo ſind wir zwei Kinder der-
ſelben Generation. Und wir müßten uns doch eigent-
lich recht gut verſtehen. Eine Fülle gleichartiger
Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch
ſind wir ſo ſehr entfernt von einander. Ich
ſtehe ja viel mehr im fließenden Leben, als
Du. Deine Heimath iſt enger — ich habe im
Grunde keine Heimath mehr. So ſollte ich keine
Schranken ſpüren ... und ſpüre und finde allent-
halben doch nur — Schranken. Das iſt ein Wider-
ſpruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das
Leben iſt ſo wahnſinnig komplicirt. Und doch hat
Jeder, der ſich nur ein Biſſel in's allgemeine Da-
ſeinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte
Alles ungeheuer einfach ſein. Und — ja! — ja!
— es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer
einfach — wenn es nur Menſchen auf der Welt
gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menſchen-
thum in die Zwangsjacke einſchnürender Formen und
Vorurtheile verſteckten ... Du biſt am Morgen vom
langen Schlafe aufgewacht und ſinnſt nach, welche
Träume Dir in der Nacht erſchienen waren. Die
Erinnerung iſt ſchroff und widerſpenſtig — und Du
findeſt keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir
Beſchlag ... und er zwingt Dich ganz in ſeinen
engen und doch ſo weiten Kreis hinein. Da plötzlich
löſt ein zufälliges Bild, das ſich Dir vor's Auge
ſchiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erin-
nerung an eine Traumſcene aus ... und ſie fliegt
an Dir vorüber ... langſam und doch zu ſchnell.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/239>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.