Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieser gren- zenlosen Gleichgültigkeit nur gespielt. Es war ihm pikant gewesen, sich ihren Besitz anzudichten, vorzu- lügen. Und nun? Nun besaß er sie wirklich -- und die Brutalität dazu, sie halb bewußt, halb unbe- wußt vor sich und Anderen verleugnen zu können .. oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter, sie für harmlose Coquetterie auszugeben, wo sie doch wohl nur traurige Thatsache war. Nein! Fräu- lein Irmer war Adam in diesem Augenblicke nichts ... absolut nichts. Warum sollte er heute Abend also nicht zu Lydia gehen? In seinem Spiegel- schränkchen trieb sich eine Anzahl verbrauchter Glace- handschuhe ... eine sehr niedliche Sammlung ab- getragener Shlipse und Schleifen herum. Die Sipp- schaft fiel Adam in die Augen, als er nach seiner Eau de Cologne-Flasche suchte. Er nahm einen Handschuh zwischen die Finger und betrachtete ihn sehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig, rauh, hier schlaffer, dort härter, steifer geworden ... wie gedörrt, runzelig zusammengetrocknet. Die Farbe unreinlich, verschossen, stark verschmutzt. Allenthalben geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgesprungen, ein anderer ließ seinen schmutzig-gelben Messing- scheitel todestraurig herabhängen. Warum schmeißt man das Gesindel nicht in die Lumpen? philoso- phirte Adam sehr tiefsinnig. Und er dachte an sein Individuum. Ob ... hm! ... ob man seine "Seele" nicht einmal ... nicht einmal -- rasiren lassen könnte? -- --
Conradi, Adam Mensch. 9
Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieſer gren- zenloſen Gleichgültigkeit nur geſpielt. Es war ihm pikant geweſen, ſich ihren Beſitz anzudichten, vorzu- lügen. Und nun? Nun beſaß er ſie wirklich — und die Brutalität dazu, ſie halb bewußt, halb unbe- wußt vor ſich und Anderen verleugnen zu können .. oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter, ſie für harmloſe Coquetterie auszugeben, wo ſie doch wohl nur traurige Thatſache war. Nein! Fräu- lein Irmer war Adam in dieſem Augenblicke nichts ... abſolut nichts. Warum ſollte er heute Abend alſo nicht zu Lydia gehen? In ſeinem Spiegel- ſchränkchen trieb ſich eine Anzahl verbrauchter Glacé- handſchuhe ... eine ſehr niedliche Sammlung ab- getragener Shlipſe und Schleifen herum. Die Sipp- ſchaft fiel Adam in die Augen, als er nach ſeiner Eau de Cologne-Flaſche ſuchte. Er nahm einen Handſchuh zwiſchen die Finger und betrachtete ihn ſehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig, rauh, hier ſchlaffer, dort härter, ſteifer geworden ... wie gedörrt, runzelig zuſammengetrocknet. Die Farbe unreinlich, verſchoſſen, ſtark verſchmutzt. Allenthalben geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgeſprungen, ein anderer ließ ſeinen ſchmutzig-gelben Meſſing- ſcheitel todestraurig herabhängen. Warum ſchmeißt man das Geſindel nicht in die Lumpen? philoſo- phirte Adam ſehr tiefſinnig. Und er dachte an ſein Individuum. Ob ... hm! ... ob man ſeine „Seele“ nicht einmal ... nicht einmal — raſiren laſſen könnte? — —
Conradi, Adam Menſch. 9
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0137"n="129"/>
Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieſer gren-<lb/>
zenloſen Gleichgültigkeit nur geſpielt. Es war ihm<lb/>
pikant geweſen, ſich ihren Beſitz anzudichten, vorzu-<lb/>
lügen. Und nun? Nun beſaß er ſie wirklich — und<lb/>
die Brutalität dazu, ſie halb bewußt, halb unbe-<lb/>
wußt vor ſich und Anderen verleugnen zu können ..<lb/>
oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter,<lb/>ſie für harmloſe Coquetterie auszugeben, wo ſie<lb/>
doch wohl nur traurige Thatſache war. Nein! Fräu-<lb/>
lein Irmer war Adam in dieſem Augenblicke nichts<lb/>
... abſolut nichts. Warum ſollte er heute Abend<lb/>
alſo nicht zu Lydia gehen? In ſeinem Spiegel-<lb/>ſchränkchen trieb ſich eine Anzahl verbrauchter Glac<hirendition="#aq">é</hi>-<lb/>
handſchuhe ... eine ſehr niedliche Sammlung ab-<lb/>
getragener Shlipſe und Schleifen herum. Die Sipp-<lb/>ſchaft fiel Adam in die Augen, als er nach ſeiner<lb/>
Eau de Cologne-Flaſche ſuchte. Er nahm einen<lb/>
Handſchuh zwiſchen die Finger und betrachtete ihn<lb/>ſehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig,<lb/>
rauh, hier ſchlaffer, dort härter, ſteifer geworden ...<lb/>
wie gedörrt, runzelig zuſammengetrocknet. Die Farbe<lb/>
unreinlich, verſchoſſen, ſtark verſchmutzt. Allenthalben<lb/>
geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgeſprungen,<lb/>
ein anderer ließ ſeinen ſchmutzig-gelben Meſſing-<lb/>ſcheitel todestraurig herabhängen. Warum ſchmeißt<lb/>
man das Geſindel nicht in die Lumpen? philoſo-<lb/>
phirte Adam ſehr tiefſinnig. Und er dachte an ſein<lb/>
Individuum. Ob ... hm! ... ob man ſeine „Seele“<lb/>
nicht einmal ... nicht einmal — raſiren laſſen<lb/>
könnte? ——</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Conradi</hi>, Adam Menſch. 9</fw><lb/></body></text></TEI>
[129/0137]
Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieſer gren-
zenloſen Gleichgültigkeit nur geſpielt. Es war ihm
pikant geweſen, ſich ihren Beſitz anzudichten, vorzu-
lügen. Und nun? Nun beſaß er ſie wirklich — und
die Brutalität dazu, ſie halb bewußt, halb unbe-
wußt vor ſich und Anderen verleugnen zu können ..
oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter,
ſie für harmloſe Coquetterie auszugeben, wo ſie
doch wohl nur traurige Thatſache war. Nein! Fräu-
lein Irmer war Adam in dieſem Augenblicke nichts
... abſolut nichts. Warum ſollte er heute Abend
alſo nicht zu Lydia gehen? In ſeinem Spiegel-
ſchränkchen trieb ſich eine Anzahl verbrauchter Glacé-
handſchuhe ... eine ſehr niedliche Sammlung ab-
getragener Shlipſe und Schleifen herum. Die Sipp-
ſchaft fiel Adam in die Augen, als er nach ſeiner
Eau de Cologne-Flaſche ſuchte. Er nahm einen
Handſchuh zwiſchen die Finger und betrachtete ihn
ſehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig,
rauh, hier ſchlaffer, dort härter, ſteifer geworden ...
wie gedörrt, runzelig zuſammengetrocknet. Die Farbe
unreinlich, verſchoſſen, ſtark verſchmutzt. Allenthalben
geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgeſprungen,
ein anderer ließ ſeinen ſchmutzig-gelben Meſſing-
ſcheitel todestraurig herabhängen. Warum ſchmeißt
man das Geſindel nicht in die Lumpen? philoſo-
phirte Adam ſehr tiefſinnig. Und er dachte an ſein
Individuum. Ob ... hm! ... ob man ſeine „Seele“
nicht einmal ... nicht einmal — raſiren laſſen
könnte? — —
Conradi, Adam Menſch. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/137>, abgerufen am 18.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.