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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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"Modernen" ist, sich zuerst in gewaltigen, äußeren
Fortschritten, in Errungenschaften mehr technischer
Natur, darzustellen, so wird zweifellos dieser Zeit
wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen.
Das Pathologische und Psychopathische unserer Tage
wird sich in der Zukunft zum normal Psychischen
umwachsen. Man wird eine große Fülle von Vor-
urtheilen und veralteten Anschauungen zusammen-
schlagen, wenn die Erkenntnisse der Psychophysik erst
Gemeingut größerer Massen geworden sind. Die
"Mystik" ist eines Tages vielleicht eine ganz gerecht-
fertigte Wissenschaft. Denken und Thun, Urtheil und
Handlung werden im Geiste einer humaneren Auf-
fassung der Dinge, einer toleranteren Anschauung der
Welt und ihrer Verhältnisse ausgeübt werden. Nüch-
terner vielleicht wird diese Menschheit der Zukunft sein,
aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch -- "ge-
rechter". Der blutige "Kampf ums Dasein", dieses
Ringen um Leben und Tod unserer Tage, wird ge-
mildert und gesänftigt werden. Erkennen, Ergrün-
den psychischer Gesetze: das ist die Hauptaufgabe der
modernen Forschung. Das Neue ist dabei, sich seine
Formen zu schaffen, sich sein Nest zu bauen. Wü-
thende, satanische Stürme werden an diesem Neste
noch herumzausen. Aber alle Stürme wird es über-
dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen sein,
wo sich das Neue heimisch fühlt in seiner Umgebung.
Nicht mehr nach "Wahrheit," nur noch nach Wahr-
heiten
wird die Menschheit ihre Columbusfahrten
unternehmen.

„Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren
Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher
Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit
wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen.
Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage
wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen
umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor-
urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen-
ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt
Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die
„Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht-
fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und
Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf-
faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der
Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch-
terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein,
aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch — „ge-
rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes
Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge-
mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün-
den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der
modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine
Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü-
thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte
noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über-
dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein,
wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung.
Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach Wahr-
heiten
wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten
unternehmen.

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[106/0114] „Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen. Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor- urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen- ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die „Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht- fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf- faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch- terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein, aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch — „ge- rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge- mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün- den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü- thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über- dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein, wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung. Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach Wahr- heiten wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten unternehmen.

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/114>, abgerufen am 13.05.2024.