"Modernen" ist, sich zuerst in gewaltigen, äußeren Fortschritten, in Errungenschaften mehr technischer Natur, darzustellen, so wird zweifellos dieser Zeit wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen. Das Pathologische und Psychopathische unserer Tage wird sich in der Zukunft zum normal Psychischen umwachsen. Man wird eine große Fülle von Vor- urtheilen und veralteten Anschauungen zusammen- schlagen, wenn die Erkenntnisse der Psychophysik erst Gemeingut größerer Massen geworden sind. Die "Mystik" ist eines Tages vielleicht eine ganz gerecht- fertigte Wissenschaft. Denken und Thun, Urtheil und Handlung werden im Geiste einer humaneren Auf- fassung der Dinge, einer toleranteren Anschauung der Welt und ihrer Verhältnisse ausgeübt werden. Nüch- terner vielleicht wird diese Menschheit der Zukunft sein, aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch -- "ge- rechter". Der blutige "Kampf ums Dasein", dieses Ringen um Leben und Tod unserer Tage, wird ge- mildert und gesänftigt werden. Erkennen, Ergrün- den psychischer Gesetze: das ist die Hauptaufgabe der modernen Forschung. Das Neue ist dabei, sich seine Formen zu schaffen, sich sein Nest zu bauen. Wü- thende, satanische Stürme werden an diesem Neste noch herumzausen. Aber alle Stürme wird es über- dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen sein, wo sich das Neue heimisch fühlt in seiner Umgebung. Nicht mehr nach "Wahrheit," nur noch nach Wahr- heiten wird die Menschheit ihre Columbusfahrten unternehmen.
„Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen. Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor- urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen- ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die „Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht- fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf- faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch- terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein, aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch — „ge- rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge- mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün- den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü- thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über- dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein, wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung. Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach Wahr- heiten wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten unternehmen.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0114"n="106"/>„Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren<lb/>
Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher<lb/>
Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit<lb/>
wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen.<lb/>
Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage<lb/>
wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen<lb/>
umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor-<lb/>
urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen-<lb/>ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt<lb/>
Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die<lb/>„Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht-<lb/>
fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und<lb/>
Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf-<lb/>
faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der<lb/>
Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch-<lb/>
terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein,<lb/>
aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch —„ge-<lb/>
rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes<lb/>
Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge-<lb/>
mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün-<lb/>
den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der<lb/>
modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine<lb/>
Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü-<lb/>
thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte<lb/>
noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über-<lb/>
dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein,<lb/>
wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung.<lb/>
Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach <hirendition="#g">Wahr-<lb/>
heiten</hi> wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten<lb/>
unternehmen.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[106/0114]
„Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren
Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher
Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit
wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen.
Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage
wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen
umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor-
urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen-
ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt
Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die
„Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht-
fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und
Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf-
faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der
Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch-
terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein,
aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch — „ge-
rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes
Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge-
mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün-
den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der
modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine
Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü-
thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte
noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über-
dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein,
wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung.
Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach Wahr-
heiten wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten
unternehmen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/114>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.