Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

während der Jahre 1879-90 im jährlichen Durchschnitt nur
10623 gegen 127077 im Deutschen Reiche.

Ferner zeigt uns die deutsche Sterbetafel, daß von den
das 20. Lebensjahr Ueberlebenden jedes männliche Wesen noch
38,4 Jahre lebt, aber jedes weibliche Wesen 40,2 Jahre. Diese
größere Widerstandsfähigkeit gegen den Tod zeigt sich bei dem
weiblichen Geschlecht auch in demjenigen Lebensalter noch, in
welchem es vergeblich wäre, behufs Herstellung des numerischen
Gleichgewichts die Fruchtbarkeit in der Richtung der "normalen
Kinderzahl" zu entfesseln. Denn von den das 50. Jahr Ueber-
lebenden lebt jedes männliche Wesen noch 18 Jahre, jedes weib-
liche Wesen 19,3 Jahre.

Jndessen so mancher Leser empfindet wohl mit mir, daß
in dem oben wiedergegebenen Gedankengange die Ungenauig-
keiten der bevölkerungsstatistischen Ansicht nicht das Bedenklichste
sind. Was uns darin stutzig macht, was uns den Zweifel nahe
legt, ob hier nicht eine Schalkheit versucht worden ist, um zu
zeigen, was alles man heutzutage den Leuten an Mitteln der
socialen Reform bieten darf - das sind die Vorschläge zur
Besserung der bestehenden Mißstände und die Grundanschauungen,
aus denen sie entspringen. Der scheinbare Widerspruch, daß
man gleichwohl es der Mühe werth erachtet, ein paar Worte
darüber zu sagen, löst sich dadurch auf, daß an hundert Stamm-
tischen des Deutschen Reiches ähnliche Anschauungen Glück
machen, und der populäre Philosoph, so sehr er die Haltung eines
kühnen Denkers annimmt, dem Philisterthum die Worte von
den Lippen liest.

Bei der lex Julia et Papia Poppaea bemerkten wir den
Gegensatz bevölkerungspolitischer Tendenzen im Römischen Reich
zu den Bevölkerungsverhältnissen des heutigen Deutschen Reiches.
Bei diesem Vorschlage Hartmann's vermissen wir jede Spur

während der Jahre 1879-90 im jährlichen Durchschnitt nur
10623 gegen 127077 im Deutschen Reiche.

Ferner zeigt uns die deutsche Sterbetafel, daß von den
das 20. Lebensjahr Ueberlebenden jedes männliche Wesen noch
38,4 Jahre lebt, aber jedes weibliche Wesen 40,2 Jahre. Diese
größere Widerstandsfähigkeit gegen den Tod zeigt sich bei dem
weiblichen Geschlecht auch in demjenigen Lebensalter noch, in
welchem es vergeblich wäre, behufs Herstellung des numerischen
Gleichgewichts die Fruchtbarkeit in der Richtung der „normalen
Kinderzahl“ zu entfesseln. Denn von den das 50. Jahr Ueber-
lebenden lebt jedes männliche Wesen noch 18 Jahre, jedes weib-
liche Wesen 19,3 Jahre.

Jndessen so mancher Leser empfindet wohl mit mir, daß
in dem oben wiedergegebenen Gedankengange die Ungenauig-
keiten der bevölkerungsstatistischen Ansicht nicht das Bedenklichste
sind. Was uns darin stutzig macht, was uns den Zweifel nahe
legt, ob hier nicht eine Schalkheit versucht worden ist, um zu
zeigen, was alles man heutzutage den Leuten an Mitteln der
socialen Reform bieten darf – das sind die Vorschläge zur
Besserung der bestehenden Mißstände und die Grundanschauungen,
aus denen sie entspringen. Der scheinbare Widerspruch, daß
man gleichwohl es der Mühe werth erachtet, ein paar Worte
darüber zu sagen, löst sich dadurch auf, daß an hundert Stamm-
tischen des Deutschen Reiches ähnliche Anschauungen Glück
machen, und der populäre Philosoph, so sehr er die Haltung eines
kühnen Denkers annimmt, dem Philisterthum die Worte von
den Lippen liest.

Bei der lex Julia et Papia Poppaea bemerkten wir den
Gegensatz bevölkerungspolitischer Tendenzen im Römischen Reich
zu den Bevölkerungsverhältnissen des heutigen Deutschen Reiches.
Bei diesem Vorschlage Hartmann's vermissen wir jede Spur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0087" n="71"/>
während der Jahre 1879-90 im jährlichen Durchschnitt nur<lb/>
10623 gegen 127077 im Deutschen Reiche.</p><lb/>
            <p>Ferner zeigt uns die deutsche Sterbetafel, daß von den<lb/>
das 20. Lebensjahr Ueberlebenden jedes männliche Wesen noch<lb/>
38,4 Jahre lebt, aber jedes weibliche Wesen 40,2 Jahre. Diese<lb/>
größere Widerstandsfähigkeit gegen den Tod zeigt sich bei dem<lb/>
weiblichen Geschlecht auch in demjenigen Lebensalter noch, in<lb/>
welchem es vergeblich wäre, behufs Herstellung des numerischen<lb/>
Gleichgewichts die Fruchtbarkeit in der Richtung der &#x201E;normalen<lb/>
Kinderzahl&#x201C; zu entfesseln. Denn von den das 50. Jahr Ueber-<lb/>
lebenden lebt jedes männliche Wesen noch 18 Jahre, jedes weib-<lb/>
liche Wesen 19,3 Jahre.</p><lb/>
            <p>Jndessen so mancher Leser empfindet wohl mit mir, daß<lb/>
in dem oben wiedergegebenen Gedankengange die Ungenauig-<lb/>
keiten der bevölkerungsstatistischen Ansicht nicht das Bedenklichste<lb/>
sind. Was uns darin stutzig macht, was uns den Zweifel nahe<lb/>
legt, ob hier nicht eine Schalkheit versucht worden ist, um zu<lb/>
zeigen, was alles man heutzutage den Leuten an Mitteln der<lb/>
socialen Reform bieten darf &#x2013; das sind die Vorschläge zur<lb/>
Besserung der bestehenden Mißstände und die Grundanschauungen,<lb/>
aus denen sie entspringen. Der scheinbare Widerspruch, daß<lb/>
man gleichwohl es der Mühe werth erachtet, ein paar Worte<lb/>
darüber zu sagen, löst sich dadurch auf, daß an hundert Stamm-<lb/>
tischen des Deutschen Reiches ähnliche Anschauungen Glück<lb/>
machen, und der populäre Philosoph, so sehr er die Haltung eines<lb/>
kühnen Denkers annimmt, dem Philisterthum die Worte von<lb/>
den Lippen liest.</p><lb/>
            <p>Bei der <hi rendition="#aq">lex Julia et Papia Poppaea</hi> bemerkten wir den<lb/>
Gegensatz bevölkerungspolitischer Tendenzen im Römischen Reich<lb/>
zu den Bevölkerungsverhältnissen des heutigen Deutschen Reiches.<lb/>
Bei diesem Vorschlage Hartmann's vermissen wir jede Spur<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0087] während der Jahre 1879-90 im jährlichen Durchschnitt nur 10623 gegen 127077 im Deutschen Reiche. Ferner zeigt uns die deutsche Sterbetafel, daß von den das 20. Lebensjahr Ueberlebenden jedes männliche Wesen noch 38,4 Jahre lebt, aber jedes weibliche Wesen 40,2 Jahre. Diese größere Widerstandsfähigkeit gegen den Tod zeigt sich bei dem weiblichen Geschlecht auch in demjenigen Lebensalter noch, in welchem es vergeblich wäre, behufs Herstellung des numerischen Gleichgewichts die Fruchtbarkeit in der Richtung der „normalen Kinderzahl“ zu entfesseln. Denn von den das 50. Jahr Ueber- lebenden lebt jedes männliche Wesen noch 18 Jahre, jedes weib- liche Wesen 19,3 Jahre. Jndessen so mancher Leser empfindet wohl mit mir, daß in dem oben wiedergegebenen Gedankengange die Ungenauig- keiten der bevölkerungsstatistischen Ansicht nicht das Bedenklichste sind. Was uns darin stutzig macht, was uns den Zweifel nahe legt, ob hier nicht eine Schalkheit versucht worden ist, um zu zeigen, was alles man heutzutage den Leuten an Mitteln der socialen Reform bieten darf – das sind die Vorschläge zur Besserung der bestehenden Mißstände und die Grundanschauungen, aus denen sie entspringen. Der scheinbare Widerspruch, daß man gleichwohl es der Mühe werth erachtet, ein paar Worte darüber zu sagen, löst sich dadurch auf, daß an hundert Stamm- tischen des Deutschen Reiches ähnliche Anschauungen Glück machen, und der populäre Philosoph, so sehr er die Haltung eines kühnen Denkers annimmt, dem Philisterthum die Worte von den Lippen liest. Bei der lex Julia et Papia Poppaea bemerkten wir den Gegensatz bevölkerungspolitischer Tendenzen im Römischen Reich zu den Bevölkerungsverhältnissen des heutigen Deutschen Reiches. Bei diesem Vorschlage Hartmann's vermissen wir jede Spur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2021-02-18T15:54:56Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-02-18T15:54:56Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/87
Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/87>, abgerufen am 05.12.2024.