Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Leistungsfähigkeit - aber zu jener Bekehrung wird man auf
dem Wege der Gesetzgebung niemals gelangen. Jn den indi-
viduellen Fällen, da in Wahrheit "Egoismus" die Ehelosigkeit
des Mannes veranlaßt, wird dieser Egoismus auch die Lasten
des neuen Gesetzes auf sich nehmen, um sich selber treu zu
bleiben. Diese Junggesellen sind einmal der Aufopferung nicht
fähig, welche die Mehrzahl der Männer dazu bewegt, sich zu
verehelichen, welche den handfesten Würdenträger in Staat und
Kirche bestimmt, zum dritten, zum vierten Male ein Weib zu
nehmen. Es gibt sonst allerdings noch andere Gründe für die
Ehelosigkeit jener Junggesellen, Gründe, die sich vielleicht mit
der Aufopferung der verheiratheten Männer auf der Wage der
Moral messen könnten - Gründe der verschiedensten Art, Gründe
des inneren und des äußeren Lebens, die anscheinend zu hoch
liegen, um dem üblichen Maße an sittlichem Gefühl in unserer
öffentlichen Meinung zugänglich zu sein.

Jedoch die Hauptsache. Was macht denn den Unterschied
in der Lebenshaltung der höheren und der niederen Classen aus?
Was predigt denn die ganze Wissenschaft der Bevölkerungslehre
seit hundert Jahren? Es gibt nichts, was die Culturhöhe der
verschiedenen Schichten innerhalb desselben Volkes so sehr kenn-
zeichnet, wie die Rücksichtslosigkeit der Eheschließung in den
unteren Classen, die daher von Alters den Namen der Pro-
letarier tragen, dagegen die Vorsicht in den mittleren und höheren
Classen. Je weiter jene Rücksichtslosigkeit geht, je mehr sie
der Empfindung entspringt, daß in der untersten Schicht das
Leben so niedrig sei, um nicht tiefer herabgehen zu können,
desto verzweifelter ist die Lage der unteren Classen. Eine
Besserung kann erst dadurch eintreten, ja, der Unterschied der
niedrigsten Schicht von den cultivirteren Schichten innerhalb der
arbeitenden Classen selber besteht darin, daß diese letzteren eine

Cohn, die deutsche Frauenbewegung. 5

Leistungsfähigkeit – aber zu jener Bekehrung wird man auf
dem Wege der Gesetzgebung niemals gelangen. Jn den indi-
viduellen Fällen, da in Wahrheit „Egoismus“ die Ehelosigkeit
des Mannes veranlaßt, wird dieser Egoismus auch die Lasten
des neuen Gesetzes auf sich nehmen, um sich selber treu zu
bleiben. Diese Junggesellen sind einmal der Aufopferung nicht
fähig, welche die Mehrzahl der Männer dazu bewegt, sich zu
verehelichen, welche den handfesten Würdenträger in Staat und
Kirche bestimmt, zum dritten, zum vierten Male ein Weib zu
nehmen. Es gibt sonst allerdings noch andere Gründe für die
Ehelosigkeit jener Junggesellen, Gründe, die sich vielleicht mit
der Aufopferung der verheiratheten Männer auf der Wage der
Moral messen könnten – Gründe der verschiedensten Art, Gründe
des inneren und des äußeren Lebens, die anscheinend zu hoch
liegen, um dem üblichen Maße an sittlichem Gefühl in unserer
öffentlichen Meinung zugänglich zu sein.

Jedoch die Hauptsache. Was macht denn den Unterschied
in der Lebenshaltung der höheren und der niederen Classen aus?
Was predigt denn die ganze Wissenschaft der Bevölkerungslehre
seit hundert Jahren? Es gibt nichts, was die Culturhöhe der
verschiedenen Schichten innerhalb desselben Volkes so sehr kenn-
zeichnet, wie die Rücksichtslosigkeit der Eheschließung in den
unteren Classen, die daher von Alters den Namen der Pro-
letarier tragen, dagegen die Vorsicht in den mittleren und höheren
Classen. Je weiter jene Rücksichtslosigkeit geht, je mehr sie
der Empfindung entspringt, daß in der untersten Schicht das
Leben so niedrig sei, um nicht tiefer herabgehen zu können,
desto verzweifelter ist die Lage der unteren Classen. Eine
Besserung kann erst dadurch eintreten, ja, der Unterschied der
niedrigsten Schicht von den cultivirteren Schichten innerhalb der
arbeitenden Classen selber besteht darin, daß diese letzteren eine

Cohn, die deutsche Frauenbewegung. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0081" n="65"/>
Leistungsfähigkeit &#x2013; aber zu jener Bekehrung wird man auf<lb/>
dem Wege der Gesetzgebung niemals gelangen. Jn den indi-<lb/>
viduellen Fällen, da in Wahrheit &#x201E;Egoismus&#x201C; die Ehelosigkeit<lb/>
des Mannes veranlaßt, wird dieser Egoismus auch die Lasten<lb/>
des neuen Gesetzes auf sich nehmen, um sich selber treu zu<lb/>
bleiben. Diese Junggesellen sind einmal der Aufopferung nicht<lb/>
fähig, welche die Mehrzahl der Männer dazu bewegt, sich zu<lb/>
verehelichen, welche den handfesten Würdenträger in Staat und<lb/>
Kirche bestimmt, zum dritten, zum vierten Male ein Weib zu<lb/>
nehmen. Es gibt sonst allerdings noch andere Gründe für die<lb/>
Ehelosigkeit jener Junggesellen, Gründe, die sich vielleicht mit<lb/>
der Aufopferung der verheiratheten Männer auf der Wage der<lb/>
Moral messen könnten &#x2013; Gründe der verschiedensten Art, Gründe<lb/>
des inneren und des äußeren Lebens, die anscheinend zu hoch<lb/>
liegen, um dem üblichen Maße an sittlichem Gefühl in unserer<lb/>
öffentlichen Meinung zugänglich zu sein.</p><lb/>
            <p>Jedoch die Hauptsache. Was macht denn den Unterschied<lb/>
in der Lebenshaltung der höheren und der niederen Classen aus?<lb/>
Was predigt denn die ganze Wissenschaft der Bevölkerungslehre<lb/>
seit hundert Jahren? Es gibt nichts, was die Culturhöhe der<lb/>
verschiedenen Schichten innerhalb desselben Volkes so sehr kenn-<lb/>
zeichnet, wie die Rücksichtslosigkeit der Eheschließung in den<lb/>
unteren Classen, die daher von Alters den Namen der Pro-<lb/>
letarier tragen, dagegen die Vorsicht in den mittleren und höheren<lb/>
Classen. Je weiter jene Rücksichtslosigkeit geht, je mehr sie<lb/>
der Empfindung entspringt, daß in der untersten Schicht das<lb/>
Leben so niedrig sei, um nicht tiefer herabgehen zu können,<lb/>
desto verzweifelter ist die Lage der unteren Classen. Eine<lb/>
Besserung kann erst dadurch eintreten, ja, der Unterschied der<lb/>
niedrigsten Schicht von den cultivirteren Schichten innerhalb der<lb/>
arbeitenden Classen selber besteht darin, daß diese letzteren eine<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Cohn, die deutsche Frauenbewegung. 5</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0081] Leistungsfähigkeit – aber zu jener Bekehrung wird man auf dem Wege der Gesetzgebung niemals gelangen. Jn den indi- viduellen Fällen, da in Wahrheit „Egoismus“ die Ehelosigkeit des Mannes veranlaßt, wird dieser Egoismus auch die Lasten des neuen Gesetzes auf sich nehmen, um sich selber treu zu bleiben. Diese Junggesellen sind einmal der Aufopferung nicht fähig, welche die Mehrzahl der Männer dazu bewegt, sich zu verehelichen, welche den handfesten Würdenträger in Staat und Kirche bestimmt, zum dritten, zum vierten Male ein Weib zu nehmen. Es gibt sonst allerdings noch andere Gründe für die Ehelosigkeit jener Junggesellen, Gründe, die sich vielleicht mit der Aufopferung der verheiratheten Männer auf der Wage der Moral messen könnten – Gründe der verschiedensten Art, Gründe des inneren und des äußeren Lebens, die anscheinend zu hoch liegen, um dem üblichen Maße an sittlichem Gefühl in unserer öffentlichen Meinung zugänglich zu sein. Jedoch die Hauptsache. Was macht denn den Unterschied in der Lebenshaltung der höheren und der niederen Classen aus? Was predigt denn die ganze Wissenschaft der Bevölkerungslehre seit hundert Jahren? Es gibt nichts, was die Culturhöhe der verschiedenen Schichten innerhalb desselben Volkes so sehr kenn- zeichnet, wie die Rücksichtslosigkeit der Eheschließung in den unteren Classen, die daher von Alters den Namen der Pro- letarier tragen, dagegen die Vorsicht in den mittleren und höheren Classen. Je weiter jene Rücksichtslosigkeit geht, je mehr sie der Empfindung entspringt, daß in der untersten Schicht das Leben so niedrig sei, um nicht tiefer herabgehen zu können, desto verzweifelter ist die Lage der unteren Classen. Eine Besserung kann erst dadurch eintreten, ja, der Unterschied der niedrigsten Schicht von den cultivirteren Schichten innerhalb der arbeitenden Classen selber besteht darin, daß diese letzteren eine Cohn, die deutsche Frauenbewegung. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2021-02-18T15:54:56Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-02-18T15:54:56Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/81
Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/81>, abgerufen am 05.12.2024.