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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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Augenblick, sich durch eine beträchtliche Masse dieser Agitations-
literatur hindurchgelesen und neben dem geringen Genuß, den
eine derartige Lectüre dem Leser immer bereitet, vielfach gerade
die negativen Eigenthümlichkeiten einer weiblichen Literatur
dieser Gattung empfunden hat, so besitzt man ein Gefühl desto
lebhafterer Anerkennung, freilich auch einen dankbaren Hinter-
grund für eine Leistung wie jenen Vortrag, durch den Frau
Elisabeth Gnauck-Kühne auf dem evangelisch-socialen Congreß
den stürmischen Beifall einer zahlreichen, überwiegend aus
Pastoren bestehenden Versammlung gewonnen hat. Es ist das
Eigenartige solcher neuen Bewegungen, daß abstracte Erörterungen
mühsam zum Ziele gelangen, daß sie immer nur einen kleinen
Kreis überzeugen, ja daß sie selbst Diejenigen zunächst nicht
gewinnen, deren berufsmäßige Pflicht ein unbefangenes Urtheil
sein sollte. Bis dann eine Thatsache kommt und mit ihrer
zwingenden Gewalt die Ueberzeugungskraft entfaltet, die allen
vernünftigen Gründen so lange gefehlt hat. Die Thatsache in
diesem Falle war das Auftreten einer deutschen Frau mit so
viel Sachkenntnis Scharfsinn, Begeisterung und doch zugleich
mit so viel Geschmack, Feinheit und Anmuth der Rede, daß
dieses Ereigniß für sich allein überzeugte. Das in Deutschland
weithin noch allmächtige Gespenst der russischen Nihilistin oder
der amerikanischen Emancipationsdame war in jenem Augen-
blicke auf einmal zerstoben. Hier stand dasjenige leibhaftig,
wovon die Leute erzählt hatten, die jenseit der Berge gelebt
und gelernt, und wozu die Anderen daheim so lange ungläubig
die Köpfe geschüttelt hatten. Unter den nahezu tausend Zu-
hörern schwieg der Widerspruch, oder das Wenige, was sich
davon hervorwagte, kleidete sich in eine Umschreibung dessen,
was die Rednerin selber besser gesagt, oder trat in Gestalt von

Augenblick, sich durch eine beträchtliche Masse dieser Agitations-
literatur hindurchgelesen und neben dem geringen Genuß, den
eine derartige Lectüre dem Leser immer bereitet, vielfach gerade
die negativen Eigenthümlichkeiten einer weiblichen Literatur
dieser Gattung empfunden hat, so besitzt man ein Gefühl desto
lebhafterer Anerkennung, freilich auch einen dankbaren Hinter-
grund für eine Leistung wie jenen Vortrag, durch den Frau
Elisabeth Gnauck-Kühne auf dem evangelisch-socialen Congreß
den stürmischen Beifall einer zahlreichen, überwiegend aus
Pastoren bestehenden Versammlung gewonnen hat. Es ist das
Eigenartige solcher neuen Bewegungen, daß abstracte Erörterungen
mühsam zum Ziele gelangen, daß sie immer nur einen kleinen
Kreis überzeugen, ja daß sie selbst Diejenigen zunächst nicht
gewinnen, deren berufsmäßige Pflicht ein unbefangenes Urtheil
sein sollte. Bis dann eine Thatsache kommt und mit ihrer
zwingenden Gewalt die Ueberzeugungskraft entfaltet, die allen
vernünftigen Gründen so lange gefehlt hat. Die Thatsache in
diesem Falle war das Auftreten einer deutschen Frau mit so
viel Sachkenntnis Scharfsinn, Begeisterung und doch zugleich
mit so viel Geschmack, Feinheit und Anmuth der Rede, daß
dieses Ereigniß für sich allein überzeugte. Das in Deutschland
weithin noch allmächtige Gespenst der russischen Nihilistin oder
der amerikanischen Emancipationsdame war in jenem Augen-
blicke auf einmal zerstoben. Hier stand dasjenige leibhaftig,
wovon die Leute erzählt hatten, die jenseit der Berge gelebt
und gelernt, und wozu die Anderen daheim so lange ungläubig
die Köpfe geschüttelt hatten. Unter den nahezu tausend Zu-
hörern schwieg der Widerspruch, oder das Wenige, was sich
davon hervorwagte, kleidete sich in eine Umschreibung dessen,
was die Rednerin selber besser gesagt, oder trat in Gestalt von

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[43/0059] Augenblick, sich durch eine beträchtliche Masse dieser Agitations- literatur hindurchgelesen und neben dem geringen Genuß, den eine derartige Lectüre dem Leser immer bereitet, vielfach gerade die negativen Eigenthümlichkeiten einer weiblichen Literatur dieser Gattung empfunden hat, so besitzt man ein Gefühl desto lebhafterer Anerkennung, freilich auch einen dankbaren Hinter- grund für eine Leistung wie jenen Vortrag, durch den Frau Elisabeth Gnauck-Kühne auf dem evangelisch-socialen Congreß den stürmischen Beifall einer zahlreichen, überwiegend aus Pastoren bestehenden Versammlung gewonnen hat. Es ist das Eigenartige solcher neuen Bewegungen, daß abstracte Erörterungen mühsam zum Ziele gelangen, daß sie immer nur einen kleinen Kreis überzeugen, ja daß sie selbst Diejenigen zunächst nicht gewinnen, deren berufsmäßige Pflicht ein unbefangenes Urtheil sein sollte. Bis dann eine Thatsache kommt und mit ihrer zwingenden Gewalt die Ueberzeugungskraft entfaltet, die allen vernünftigen Gründen so lange gefehlt hat. Die Thatsache in diesem Falle war das Auftreten einer deutschen Frau mit so viel Sachkenntnis Scharfsinn, Begeisterung und doch zugleich mit so viel Geschmack, Feinheit und Anmuth der Rede, daß dieses Ereigniß für sich allein überzeugte. Das in Deutschland weithin noch allmächtige Gespenst der russischen Nihilistin oder der amerikanischen Emancipationsdame war in jenem Augen- blicke auf einmal zerstoben. Hier stand dasjenige leibhaftig, wovon die Leute erzählt hatten, die jenseit der Berge gelebt und gelernt, und wozu die Anderen daheim so lange ungläubig die Köpfe geschüttelt hatten. Unter den nahezu tausend Zu- hörern schwieg der Widerspruch, oder das Wenige, was sich davon hervorwagte, kleidete sich in eine Umschreibung dessen, was die Rednerin selber besser gesagt, oder trat in Gestalt von

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/59>, abgerufen am 29.03.2024.