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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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von ihren ursprünglichen Linien. Die Engländer seien mehr
als irgend ein anderes Volk ein Product der Civilisation.
England sei das Land, in welchem die sociale Disciplin am
weitesten gediehen sei und Alles unterdrückt habe, was ihr
widerstrebe. Jn England habe die Sitte größtentheils die
Natur ersetzt: der größere Theil des Lebens wird hingebracht,
nicht indem man der Neigung folgt, unter der Controle der
Sitte, sondern indem man gar keine andere Neigung hat, als
der Sitte zu folgen.

Man hat eingewendet, der anatomische Nachweis sei er-
bracht für die geringere geistige Fähigkeit des weiblichen Ge-
schlechts gegenüber dem männlichen. Das Hirngewicht sei bei
Frauen kleiner als bei Männern. Diese Thatsache bestreitet
Mill. Wenn man sie aus der Kleinheit der Gestalt folgere,
so würden sich daraus verhängnißvolle Consequenzen für die
Jndividuen des männlichen Geschlechts ergeben. Dazu sei fest-
gestellt, daß manche Frauen ein ebenso großes Gehirn haben
als Männer. Ja, ein Forscher, der viele menschliche Gehirne
gewogen, habe gefunden, daß das schwerste darunter das Ge-
hirn einer Frau gewesen. Jedoch die Hauptsache sei unerwiesen,
nämlich, daß von der Größe des Gehirns allein das Maß der
geistigen Fähigkeiten abhänge. (Ein deutscher Naturforscher,
der die von Mill bekämpfte Ansicht öffentlich vertreten, soll
das Mißgeschick gehabt haben, daß sein eigenes Hirngewicht
sich nach seinem Tode als auffallend klein ergab, um so auf-
fallender durch den Contrast zu seiner colossalen Körpergestalt.)

Soweit aber historische Erfahrung vorhanden sei, spreche
sie für die Fähigkeit des weiblichen Geschlechts, in den Berufs-
arten des Lebens den Männern gleichgestellt zu werden. Mill
hat in der Geschichte Jndiens gefunden, daß unter den Re-
gierungen der Hindu, so oft eine Herrschaft stark, wachsam und

von ihren ursprünglichen Linien. Die Engländer seien mehr
als irgend ein anderes Volk ein Product der Civilisation.
England sei das Land, in welchem die sociale Disciplin am
weitesten gediehen sei und Alles unterdrückt habe, was ihr
widerstrebe. Jn England habe die Sitte größtentheils die
Natur ersetzt: der größere Theil des Lebens wird hingebracht,
nicht indem man der Neigung folgt, unter der Controle der
Sitte, sondern indem man gar keine andere Neigung hat, als
der Sitte zu folgen.

Man hat eingewendet, der anatomische Nachweis sei er-
bracht für die geringere geistige Fähigkeit des weiblichen Ge-
schlechts gegenüber dem männlichen. Das Hirngewicht sei bei
Frauen kleiner als bei Männern. Diese Thatsache bestreitet
Mill. Wenn man sie aus der Kleinheit der Gestalt folgere,
so würden sich daraus verhängnißvolle Consequenzen für die
Jndividuen des männlichen Geschlechts ergeben. Dazu sei fest-
gestellt, daß manche Frauen ein ebenso großes Gehirn haben
als Männer. Ja, ein Forscher, der viele menschliche Gehirne
gewogen, habe gefunden, daß das schwerste darunter das Ge-
hirn einer Frau gewesen. Jedoch die Hauptsache sei unerwiesen,
nämlich, daß von der Größe des Gehirns allein das Maß der
geistigen Fähigkeiten abhänge. (Ein deutscher Naturforscher,
der die von Mill bekämpfte Ansicht öffentlich vertreten, soll
das Mißgeschick gehabt haben, daß sein eigenes Hirngewicht
sich nach seinem Tode als auffallend klein ergab, um so auf-
fallender durch den Contrast zu seiner colossalen Körpergestalt.)

Soweit aber historische Erfahrung vorhanden sei, spreche
sie für die Fähigkeit des weiblichen Geschlechts, in den Berufs-
arten des Lebens den Männern gleichgestellt zu werden. Mill
hat in der Geschichte Jndiens gefunden, daß unter den Re-
gierungen der Hindu, so oft eine Herrschaft stark, wachsam und

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[101/0117] von ihren ursprünglichen Linien. Die Engländer seien mehr als irgend ein anderes Volk ein Product der Civilisation. England sei das Land, in welchem die sociale Disciplin am weitesten gediehen sei und Alles unterdrückt habe, was ihr widerstrebe. Jn England habe die Sitte größtentheils die Natur ersetzt: der größere Theil des Lebens wird hingebracht, nicht indem man der Neigung folgt, unter der Controle der Sitte, sondern indem man gar keine andere Neigung hat, als der Sitte zu folgen. Man hat eingewendet, der anatomische Nachweis sei er- bracht für die geringere geistige Fähigkeit des weiblichen Ge- schlechts gegenüber dem männlichen. Das Hirngewicht sei bei Frauen kleiner als bei Männern. Diese Thatsache bestreitet Mill. Wenn man sie aus der Kleinheit der Gestalt folgere, so würden sich daraus verhängnißvolle Consequenzen für die Jndividuen des männlichen Geschlechts ergeben. Dazu sei fest- gestellt, daß manche Frauen ein ebenso großes Gehirn haben als Männer. Ja, ein Forscher, der viele menschliche Gehirne gewogen, habe gefunden, daß das schwerste darunter das Ge- hirn einer Frau gewesen. Jedoch die Hauptsache sei unerwiesen, nämlich, daß von der Größe des Gehirns allein das Maß der geistigen Fähigkeiten abhänge. (Ein deutscher Naturforscher, der die von Mill bekämpfte Ansicht öffentlich vertreten, soll das Mißgeschick gehabt haben, daß sein eigenes Hirngewicht sich nach seinem Tode als auffallend klein ergab, um so auf- fallender durch den Contrast zu seiner colossalen Körpergestalt.) Soweit aber historische Erfahrung vorhanden sei, spreche sie für die Fähigkeit des weiblichen Geschlechts, in den Berufs- arten des Lebens den Männern gleichgestellt zu werden. Mill hat in der Geschichte Jndiens gefunden, daß unter den Re- gierungen der Hindu, so oft eine Herrschaft stark, wachsam und

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/117>, abgerufen am 05.12.2024.