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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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man der neueren Naturwissenschaft und ihrer Entwickelungs-
lehre entlehnt hat - der Satz von dem Naturgesetze fort-
schreitender Differenzirung. Es geht hier wie so oft mit den
Analogien der Naturwissenschaft, durch die man die historische
Welt erklären will. Sie reichen an die verwickelten Erschei-
nungen des historischen Stoffes nicht heran.

Schon zu einer Zeit, da derartige Analogien in der Wissen-
schaft noch nicht Mode waren, hat W. H. Riehl in seiner
"Naturgeschichte des Volkes" vor nun vierzig Jahren auf seine
Art Aehnliches behauptet. Gegen die Bestrebungen der Frauen-
emancipation, welche die männliche Kleidung zu der gemein-
samen für beide Geschlechter machen wollte, wendete er ein,
daß diese Tendenz statt eines Fortschritts vielmehr ein Rückschritt
sei, da es ein Zeichen roher Culturstufen sei, daß Männer und
Frauen die gleiche Tracht trügen, wogegen jede höhere Cultur
zur schärferen Unterscheidung führe. Und wirklich berichtet uns
Tacitus in seinem Buche über die Germanen*), daß die Frauen
keine andere Kleidung als die Männer haben - ein Kenn-
zeichen primitiver Cultur, das vollkommen zu den anderen
stimmt, die Tacitus sonst über den damaligen Zustand der
Germanen mittheilt. Jch meine nicht die Bemerkung, daß
beide Geschlechter das Geheimniß der Schrift nicht kennen,
sondern die andere, welche uns die Frauen als eine Art von
Halb-Amazonen zeigt: die Genossinnen der Gefahren des
Mannes, die "in der Schlacht wie im Frieden dasselbe dulden
und dasselbe wagen". Freilich sagt uns Tacitus an einer
anderen Stelle**) - und das ist ein Fingerzeig für den Werth
jener Analogie von dem Gesetz der fortschreitenden Differenzirung

*) Cap. 17. Vergl. Cap. 18 und 19.
**) Cap. 15.

man der neueren Naturwissenschaft und ihrer Entwickelungs-
lehre entlehnt hat – der Satz von dem Naturgesetze fort-
schreitender Differenzirung. Es geht hier wie so oft mit den
Analogien der Naturwissenschaft, durch die man die historische
Welt erklären will. Sie reichen an die verwickelten Erschei-
nungen des historischen Stoffes nicht heran.

Schon zu einer Zeit, da derartige Analogien in der Wissen-
schaft noch nicht Mode waren, hat W. H. Riehl in seiner
„Naturgeschichte des Volkes“ vor nun vierzig Jahren auf seine
Art Aehnliches behauptet. Gegen die Bestrebungen der Frauen-
emancipation, welche die männliche Kleidung zu der gemein-
samen für beide Geschlechter machen wollte, wendete er ein,
daß diese Tendenz statt eines Fortschritts vielmehr ein Rückschritt
sei, da es ein Zeichen roher Culturstufen sei, daß Männer und
Frauen die gleiche Tracht trügen, wogegen jede höhere Cultur
zur schärferen Unterscheidung führe. Und wirklich berichtet uns
Tacitus in seinem Buche über die Germanen*), daß die Frauen
keine andere Kleidung als die Männer haben – ein Kenn-
zeichen primitiver Cultur, das vollkommen zu den anderen
stimmt, die Tacitus sonst über den damaligen Zustand der
Germanen mittheilt. Jch meine nicht die Bemerkung, daß
beide Geschlechter das Geheimniß der Schrift nicht kennen,
sondern die andere, welche uns die Frauen als eine Art von
Halb-Amazonen zeigt: die Genossinnen der Gefahren des
Mannes, die „in der Schlacht wie im Frieden dasselbe dulden
und dasselbe wagen“. Freilich sagt uns Tacitus an einer
anderen Stelle**) – und das ist ein Fingerzeig für den Werth
jener Analogie von dem Gesetz der fortschreitenden Differenzirung

*) Cap. 17. Vergl. Cap. 18 und 19.
**) Cap. 15.
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[85/0101] man der neueren Naturwissenschaft und ihrer Entwickelungs- lehre entlehnt hat – der Satz von dem Naturgesetze fort- schreitender Differenzirung. Es geht hier wie so oft mit den Analogien der Naturwissenschaft, durch die man die historische Welt erklären will. Sie reichen an die verwickelten Erschei- nungen des historischen Stoffes nicht heran. Schon zu einer Zeit, da derartige Analogien in der Wissen- schaft noch nicht Mode waren, hat W. H. Riehl in seiner „Naturgeschichte des Volkes“ vor nun vierzig Jahren auf seine Art Aehnliches behauptet. Gegen die Bestrebungen der Frauen- emancipation, welche die männliche Kleidung zu der gemein- samen für beide Geschlechter machen wollte, wendete er ein, daß diese Tendenz statt eines Fortschritts vielmehr ein Rückschritt sei, da es ein Zeichen roher Culturstufen sei, daß Männer und Frauen die gleiche Tracht trügen, wogegen jede höhere Cultur zur schärferen Unterscheidung führe. Und wirklich berichtet uns Tacitus in seinem Buche über die Germanen *), daß die Frauen keine andere Kleidung als die Männer haben – ein Kenn- zeichen primitiver Cultur, das vollkommen zu den anderen stimmt, die Tacitus sonst über den damaligen Zustand der Germanen mittheilt. Jch meine nicht die Bemerkung, daß beide Geschlechter das Geheimniß der Schrift nicht kennen, sondern die andere, welche uns die Frauen als eine Art von Halb-Amazonen zeigt: die Genossinnen der Gefahren des Mannes, die „in der Schlacht wie im Frieden dasselbe dulden und dasselbe wagen“. Freilich sagt uns Tacitus an einer anderen Stelle **) – und das ist ein Fingerzeig für den Werth jener Analogie von dem Gesetz der fortschreitenden Differenzirung *) Cap. 17. Vergl. Cap. 18 und 19. **) Cap. 15.

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/101>, abgerufen am 28.03.2024.