Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.
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p2c_511.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0035" n="511"/><lb n="p2c_511.001"/> gestalt</hi> annahmen, um als bloße Erscheinungen unter uns <lb n="p2c_511.002"/> zu wandeln. Aber diese Götter waren immer objektiv außerhalb <lb n="p2c_511.003"/> der Menschheit hingestellt. Es war eine ewige <lb n="p2c_511.004"/> Kluft zwischen der Gottheit und der sterblichen Natur. Das <lb n="p2c_511.005"/> Wesen des Christenthums hingegen besteht darinnen, daß <lb n="p2c_511.006"/> der Gott zugleich <hi rendition="#g">wahrer Mensch</hi> war, besteht in einer <lb n="p2c_511.007"/> innigen engen Vereinigung der göttlichen und menschlichen <lb n="p2c_511.008"/> Natur. Nur dadurch, daß der Gott, der nichts als das <lb n="p2c_511.009"/> Gute wollte, <hi rendition="#g">menschlich fühlte, menschlich litt,</hi> <lb n="p2c_511.010"/> erhebt sich das Christenthum als einzig ächte <hi rendition="#g">Humanität</hi> <lb n="p2c_511.011"/> über alle <hi rendition="#g">inhumane</hi> Fabeln des Heydenthums. Der Enthusiasmus, <lb n="p2c_511.012"/> den die Leidensgeschichte Christi in so vielen <lb n="p2c_511.013"/> Menschenseelen erregt, ist allein durch das Bedürfniß erklärbar, <lb n="p2c_511.014"/> das göttliche Prinzip der Dinge, die höchste reinste <lb n="p2c_511.015"/> Liebe im Kampfe mit der fühllosen Natur dargestellt zu sehen. <lb n="p2c_511.016"/> Eine <hi rendition="#g">ideale</hi> Weltgeschichte, welche uns diesen <lb n="p2c_511.017"/> Kampf im vollsten Glanze zeigt, welche die tiefste Erniedrigung <lb n="p2c_511.018"/> und die größte Erhöhung neben einander stellt, ist zu <lb n="p2c_511.019"/> gleicher Zeit die Geschichte eines jeden menschlichen Herzens. <lb n="p2c_511.020"/> Der Sieg, den sie verkündet, muß jedes Herz zu einem <lb n="p2c_511.021"/> ähnlichen Siege anfeuern. Auf dieses mit ästhetischer Ruhe <lb n="p2c_511.022"/> verbundene praktische Jnteresse gründet sich vorzüglich der <lb n="p2c_511.023"/> Glaube an ihre historische Wahrheit. ─ Und diesen <hi rendition="#g">Glauben</hi> <lb n="p2c_511.024"/> verlangt sie, wie ihn unsre Natur verlangt, kein <hi rendition="#g">Wissen</hi> <lb n="p2c_511.025"/> giebt sie nicht, kann und darf sie nicht geben. Was <lb n="p2c_511.026"/> seyn soll, muß seyn. Das ist die wahre Ueberzeugung. <lb n="p2c_511.027"/> Was in der Welt siegen soll, muß siegen. Das ist die Jdee, <lb n="p2c_511.028"/> aus der alles göttliche Handeln kommt. Die höchste Schönheit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [511/0035]
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gestalt annahmen, um als bloße Erscheinungen unter uns p2c_511.002
zu wandeln. Aber diese Götter waren immer objektiv außerhalb p2c_511.003
der Menschheit hingestellt. Es war eine ewige p2c_511.004
Kluft zwischen der Gottheit und der sterblichen Natur. Das p2c_511.005
Wesen des Christenthums hingegen besteht darinnen, daß p2c_511.006
der Gott zugleich wahrer Mensch war, besteht in einer p2c_511.007
innigen engen Vereinigung der göttlichen und menschlichen p2c_511.008
Natur. Nur dadurch, daß der Gott, der nichts als das p2c_511.009
Gute wollte, menschlich fühlte, menschlich litt, p2c_511.010
erhebt sich das Christenthum als einzig ächte Humanität p2c_511.011
über alle inhumane Fabeln des Heydenthums. Der Enthusiasmus, p2c_511.012
den die Leidensgeschichte Christi in so vielen p2c_511.013
Menschenseelen erregt, ist allein durch das Bedürfniß erklärbar, p2c_511.014
das göttliche Prinzip der Dinge, die höchste reinste p2c_511.015
Liebe im Kampfe mit der fühllosen Natur dargestellt zu sehen. p2c_511.016
Eine ideale Weltgeschichte, welche uns diesen p2c_511.017
Kampf im vollsten Glanze zeigt, welche die tiefste Erniedrigung p2c_511.018
und die größte Erhöhung neben einander stellt, ist zu p2c_511.019
gleicher Zeit die Geschichte eines jeden menschlichen Herzens. p2c_511.020
Der Sieg, den sie verkündet, muß jedes Herz zu einem p2c_511.021
ähnlichen Siege anfeuern. Auf dieses mit ästhetischer Ruhe p2c_511.022
verbundene praktische Jnteresse gründet sich vorzüglich der p2c_511.023
Glaube an ihre historische Wahrheit. ─ Und diesen Glauben p2c_511.024
verlangt sie, wie ihn unsre Natur verlangt, kein Wissen p2c_511.025
giebt sie nicht, kann und darf sie nicht geben. Was p2c_511.026
seyn soll, muß seyn. Das ist die wahre Ueberzeugung. p2c_511.027
Was in der Welt siegen soll, muß siegen. Das ist die Jdee, p2c_511.028
aus der alles göttliche Handeln kommt. Die höchste Schönheit
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