Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_711.001 p2c_711.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0235" n="711"/><lb n="p2c_711.001"/> gefaßt. Ueberhaupt scheint es besser, wenn der höhere Lehrdichter <lb n="p2c_711.002"/> die Wahrheit nicht als ein weitumfassendes System <lb n="p2c_711.003"/> darzustellen unternimmt, wenn er sich auf irgend einen einzelnen <lb n="p2c_711.004"/> metaphysischen Standpunkt stellt, wie z. B. die Frage vom <lb n="p2c_711.005"/> Uebel, vom Selbstmord, von der Bestimmung des Menschen, <lb n="p2c_711.006"/> wie Pope, und von da aus den Blick ins unermeßliche Ganze <lb n="p2c_711.007"/> hinaus erweitert. Es ist eben so, wie beym <hi rendition="#g">Heldengedichte.</hi> <lb n="p2c_711.008"/> Der Heldendichter thut gut, seine Handlung <lb n="p2c_711.009"/> auf eine einzige That zu concentriren, der <hi rendition="#g">Lehrdichter</hi> <lb n="p2c_711.010"/> thut gut, sein System in der Anwendung auf irgend einem <lb n="p2c_711.011"/> Hauptfall zu zeigen. Die Uebergänge des Lehrgedichts müssen <lb n="p2c_711.012"/> ohne Zwang des Verstandes nicht wissenschaftlich seyn, <lb n="p2c_711.013"/> mehr durch willkührliche Jdeen= Assoziation der Phantasie <lb n="p2c_711.014"/> und der Empfindung bewirkt. <hi rendition="#g">Haller</hi> fängt sein Lehrgedicht <lb n="p2c_711.015"/> über das Uebel mit Beschreibung einer Landschaft an, <lb n="p2c_711.016"/> in welcher die wohlthätige Fülle der Natur überall ausgebreitet <lb n="p2c_711.017"/> ist, und fährt dann fort: „Und dieses ist die Welt, <lb n="p2c_711.018"/> worüber Weise klagen.“ ─ Diese Jdeenassoziation ist ächt <lb n="p2c_711.019"/> poetisch, weil sie so willkührlich erscheint. Eben so folgen <lb n="p2c_711.020"/> Pope und Young mit vollkommner Freyheit ihrer Laune, <lb n="p2c_711.021"/> indem sie die philosophischen Gedanken an einander reihen, <lb n="p2c_711.022"/> wiewohl ersterer gleich Anfangs den Jnhalt seines Gedichts <lb n="p2c_711.023"/> bestimmt angiebt. Was die <hi rendition="#g">Digressionen</hi> in dem höhern <lb n="p2c_711.024"/> Lehrgedichte betrifft, so müssen sie freylich nicht als <lb n="p2c_711.025"/> unnütze Zierrathen da seyn. Der Gegenstand ist zu <hi rendition="#g">ernst,</hi> <lb n="p2c_711.026"/> zu erhaben, um dem Dichter Muße zu vielen Ausschweifungen <lb n="p2c_711.027"/> zu erlauben. Sie müssen gerade dazu da seyn, das <lb n="p2c_711.028"/> Hauptprinzip unvermerkt in ein helleres Licht zu setzen. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [711/0235]
p2c_711.001
gefaßt. Ueberhaupt scheint es besser, wenn der höhere Lehrdichter p2c_711.002
die Wahrheit nicht als ein weitumfassendes System p2c_711.003
darzustellen unternimmt, wenn er sich auf irgend einen einzelnen p2c_711.004
metaphysischen Standpunkt stellt, wie z. B. die Frage vom p2c_711.005
Uebel, vom Selbstmord, von der Bestimmung des Menschen, p2c_711.006
wie Pope, und von da aus den Blick ins unermeßliche Ganze p2c_711.007
hinaus erweitert. Es ist eben so, wie beym Heldengedichte. p2c_711.008
Der Heldendichter thut gut, seine Handlung p2c_711.009
auf eine einzige That zu concentriren, der Lehrdichter p2c_711.010
thut gut, sein System in der Anwendung auf irgend einem p2c_711.011
Hauptfall zu zeigen. Die Uebergänge des Lehrgedichts müssen p2c_711.012
ohne Zwang des Verstandes nicht wissenschaftlich seyn, p2c_711.013
mehr durch willkührliche Jdeen= Assoziation der Phantasie p2c_711.014
und der Empfindung bewirkt. Haller fängt sein Lehrgedicht p2c_711.015
über das Uebel mit Beschreibung einer Landschaft an, p2c_711.016
in welcher die wohlthätige Fülle der Natur überall ausgebreitet p2c_711.017
ist, und fährt dann fort: „Und dieses ist die Welt, p2c_711.018
worüber Weise klagen.“ ─ Diese Jdeenassoziation ist ächt p2c_711.019
poetisch, weil sie so willkührlich erscheint. Eben so folgen p2c_711.020
Pope und Young mit vollkommner Freyheit ihrer Laune, p2c_711.021
indem sie die philosophischen Gedanken an einander reihen, p2c_711.022
wiewohl ersterer gleich Anfangs den Jnhalt seines Gedichts p2c_711.023
bestimmt angiebt. Was die Digressionen in dem höhern p2c_711.024
Lehrgedichte betrifft, so müssen sie freylich nicht als p2c_711.025
unnütze Zierrathen da seyn. Der Gegenstand ist zu ernst, p2c_711.026
zu erhaben, um dem Dichter Muße zu vielen Ausschweifungen p2c_711.027
zu erlauben. Sie müssen gerade dazu da seyn, das p2c_711.028
Hauptprinzip unvermerkt in ein helleres Licht zu setzen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |