p2c_641.001 das pulpitum sey höher gewesen, als der Ort der Schauspieler. p2c_641.002 Uebrigens hat der Ausdruck pulpitum vielleicht p2c_641.003 einen weitern und engern Sinn. - Nach diesen Bemerkungen p2c_641.004 läßt sich das Wesen des Chors folgendermaßen p2c_641.005 angeben: Er ist eine lyrische Person, eine Anzahl vereinigter p2c_641.006 Sänger und Rhapsoden, welche eigentlich ursprünglich p2c_641.007 das Ganze der Handlung vortragen und interpretiren. p2c_641.008 Jnsofern repräsentirt der Chor den Dichter. Er ist das p2c_641.009 Fundament, auf welchem sich das Gebäu der Handlung p2c_641.010 erhebt. Durch den Chor werden wir immer daran erinnert, p2c_641.011 das Ganze sey eigentlich eine Vorstellung, keine p2c_641.012 Wirklichkeit. Denn der Chor macht den Erzähler, wie p2c_641.013 der Heldendichter. Er zieht moralische Folgen aus der p2c_641.014 Handlung, sagt zuweilen voraus, welche Person sich nähert, p2c_641.015 was geschehn werde, und erhält dadurch die ruhigep2c_641.016 Würde des Ganzen. Die Handlung selbst ist leidenschaftlich. p2c_641.017 Die Personen sind in Leidenschaft. Wär wahre Nachahmung, p2c_641.018 und höchste Jllusion der Zweck der Tragödie, so p2c_641.019 würde alle ideale Ruhe und Nüchternheit des Kunstwerks p2c_641.020 verlohren gehn. Denn es ist keine Person da, welche die p2c_641.021 volle Besinnung hat, wie bey der Epopöe der Erzähler. p2c_641.022 Deswegen ist der Chor da, als ein außerdramatischesp2c_641.023 Wesen, das die Uebersicht des Ganzen giebt. Um nun aber p2c_641.024 doch der Jllusion etwas zu gestatten, nimmt der Chor p2c_641.025 die äußere Gestalt von Personen an, welche möglicher Weise p2c_641.026 interessirte Zuschauer bey der Handlung gewesen seyn können. p2c_641.027 Doch gehn neuere Kunstrichter zu weit, wenn sie deshalb p2c_641.028 behaupten, der Chor repräseutire ein ideales Publikum
p2c_641.001 das pulpitum sey höher gewesen, als der Ort der Schauspieler. p2c_641.002 Uebrigens hat der Ausdruck pulpitum vielleicht p2c_641.003 einen weitern und engern Sinn. ─ Nach diesen Bemerkungen p2c_641.004 läßt sich das Wesen des Chors folgendermaßen p2c_641.005 angeben: Er ist eine lyrische Person, eine Anzahl vereinigter p2c_641.006 Sänger und Rhapsoden, welche eigentlich ursprünglich p2c_641.007 das Ganze der Handlung vortragen und interpretiren. p2c_641.008 Jnsofern repräsentirt der Chor den Dichter. Er ist das p2c_641.009 Fundament, auf welchem sich das Gebäu der Handlung p2c_641.010 erhebt. Durch den Chor werden wir immer daran erinnert, p2c_641.011 das Ganze sey eigentlich eine Vorstellung, keine p2c_641.012 Wirklichkeit. Denn der Chor macht den Erzähler, wie p2c_641.013 der Heldendichter. Er zieht moralische Folgen aus der p2c_641.014 Handlung, sagt zuweilen voraus, welche Person sich nähert, p2c_641.015 was geschehn werde, und erhält dadurch die ruhigep2c_641.016 Würde des Ganzen. Die Handlung selbst ist leidenschaftlich. p2c_641.017 Die Personen sind in Leidenschaft. Wär wahre Nachahmung, p2c_641.018 und höchste Jllusion der Zweck der Tragödie, so p2c_641.019 würde alle ideale Ruhe und Nüchternheit des Kunstwerks p2c_641.020 verlohren gehn. Denn es ist keine Person da, welche die p2c_641.021 volle Besinnung hat, wie bey der Epopöe der Erzähler. p2c_641.022 Deswegen ist der Chor da, als ein außerdramatischesp2c_641.023 Wesen, das die Uebersicht des Ganzen giebt. Um nun aber p2c_641.024 doch der Jllusion etwas zu gestatten, nimmt der Chor p2c_641.025 die äußere Gestalt von Personen an, welche möglicher Weise p2c_641.026 interessirte Zuschauer bey der Handlung gewesen seyn können. p2c_641.027 Doch gehn neuere Kunstrichter zu weit, wenn sie deshalb p2c_641.028 behaupten, der Chor repräseutire ein ideales Publikum
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/165>, abgerufen am 16.07.2024.
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