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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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und das giebt gewissermaßen zwey Handlungen, die nicht p2c_628.002
nothwendig mit einander verbunden sind. Beym Shakespear p2c_628.003
ist oft genialischer Jdeenreichthum die Ursache von einer p2c_628.004
doppelten Handlung. So z. B. hat Romeo anfangs p2c_628.005
eine andere Liebe, welche ihn einen ganzen Akt durch peinigt. p2c_628.006
Jm Hamlet, welches mehr ein Charakterstück p2c_628.007
ist, fehlt der rasche Gang der Handlung. Tragischer p2c_628.008
ist Makbeth, dessen blutdürstiger Ehrgeiz von Verbrechen p2c_628.009
zu Verbrechen unaufhaltsam fortgeht. Die einfache p2c_628.010
Organisation der Handlung verlangt endlich eine proportionierliche p2c_628.011
Disposition ihrer einzelnen Theile. Da dem p2c_628.012
Zuhörer Ruhepunkte gegeben werden müssen, so hat man p2c_628.013
die Eintheilung in Akte erfunden. Jndeß muß ein Akt p2c_628.014
allemal so schließen, daß eine neue Erwartung entsteht, p2c_628.015
die im folgenden befriedigt wird, wenn gleich er auch schon p2c_628.016
den Anfang einer Auflösung erhalten muß, weil sonst keine p2c_628.017
Ruhe möglich wäre. Unrecht ists, wenn mit Einem Akte p2c_628.018
die Handlung so weit vollendet scheint, daß man keinen p2c_628.019
folgenden vermuthet, wie z. B. im Otto von Wittelsbach, p2c_628.020
im Clavigo. Die Zahl von fünf Akten ist zwar zufällig angenommen, p2c_628.021
ist aber doch in der Natur der Sache gegründet. p2c_628.022
Jede Handlung hat, wie Aristoteles sagt, einen Anfang, p2c_628.023
eine Mitte, ein Ende. Wenn man für den p2c_628.024
Anfang, und für das Ende einen Akt rechnet, so bleiben p2c_628.025
drey für die eigentliche Verwicklung übrig, und das ist eine p2c_628.026
richtige Proportion. Da in der Tragödie alles concentrirt p2c_628.027
seyn muß, so muß alles Ueberflüssige vermieden werden. p2c_628.028
Es ist keine Erzählung, es ist die Thatsache selbst,

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und das giebt gewissermaßen zwey Handlungen, die nicht p2c_628.002
nothwendig mit einander verbunden sind. Beym Shakespear p2c_628.003
ist oft genialischer Jdeenreichthum die Ursache von einer p2c_628.004
doppelten Handlung. So z. B. hat Romeo anfangs p2c_628.005
eine andere Liebe, welche ihn einen ganzen Akt durch peinigt. p2c_628.006
Jm Hamlet, welches mehr ein Charakterstück p2c_628.007
ist, fehlt der rasche Gang der Handlung. Tragischer p2c_628.008
ist Makbeth, dessen blutdürstiger Ehrgeiz von Verbrechen p2c_628.009
zu Verbrechen unaufhaltsam fortgeht. Die einfache p2c_628.010
Organisation der Handlung verlangt endlich eine proportionierliche p2c_628.011
Disposition ihrer einzelnen Theile. Da dem p2c_628.012
Zuhörer Ruhepunkte gegeben werden müssen, so hat man p2c_628.013
die Eintheilung in Akte erfunden. Jndeß muß ein Akt p2c_628.014
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den Anfang einer Auflösung erhalten muß, weil sonst keine p2c_628.017
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ist aber doch in der Natur der Sache gegründet. p2c_628.022
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/152>, abgerufen am 05.05.2024.