Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_625.001 p2c_625.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0149" n="625"/><lb n="p2c_625.001"/> durch Verwicklungen zu sehr beschäftigt, hat er zu viel zu <lb n="p2c_625.002"/> grübeln, über die Triebfeder der Handlungen, über die Umstände, <lb n="p2c_625.003"/> (wie z. B. im Don Carlos wegen Posas Tod) so <lb n="p2c_625.004"/> hat der Geist keine Muse, das Erhabene des Ganzen zu empfinden. <lb n="p2c_625.005"/> Jm Lustspiel, in der Oper, hat der Verstand <lb n="p2c_625.006"/> wegen der Munterkeit der Gemüthsstimmung Spielraum. <lb n="p2c_625.007"/> Es kann ihm, wie z. B. in Figaros Hochzeit Stoff zu grübeln, <lb n="p2c_625.008"/> gegeben werden. Daher heißt die Fabel des Lustspiels <hi rendition="#g">Jntrigue.</hi> <lb n="p2c_625.009"/> Die höhere <hi rendition="#g">Tragödie</hi> sollte nie zum Jnhalt <lb n="p2c_625.010"/> eine Jntrigue haben. Die besten Trauerspiele, der Oedipus <lb n="p2c_625.011"/> Coloneus, die Antigone sind ganz einfach, ohne verwickelte <lb n="p2c_625.012"/> Situationen. Oedipus Tyrannus ist verwickelter und steht <lb n="p2c_625.013"/> hier gewissermaßen an der Gränze. Allein die Verwicklung <lb n="p2c_625.014"/> ist doch planmäßig, es geht alles so leicht und faßlich auseinander, <lb n="p2c_625.015"/> daß der Verstand keinen Zweifel behält, und das <lb n="p2c_625.016"/> Ganze eben so schnell ahnet, als übersieht. Die Einfachheit <lb n="p2c_625.017"/> der Handlung wird durch Ein herrschendes <hi rendition="#g">Hauptinteresse,</hi> <lb n="p2c_625.018"/> durch die Beziehung des Ganzen auf das Schicksal <lb n="p2c_625.019"/> weniger <hi rendition="#g">Personen</hi> bewirkt. Jn dem erzählenden Gedicht <lb n="p2c_625.020"/> kann viel eingeschaltet werden. Aber in der Tragödie <lb n="p2c_625.021"/> hat man keine Zeit auf Nebendinge zu sehn. Es ist der <lb n="p2c_625.022"/> höchste Moment der Thätigkeit (<foreign xml:lang="grc">ακμη</foreign>). Daher muß es <lb n="p2c_625.023"/> keine überflüßige Personen geben, die offenbar blos Behelfe <lb n="p2c_625.024"/> des Dichters sind. Jhre Menge verwirrt den Zuschauer. <lb n="p2c_625.025"/> Man weiß nicht, ob sie nöthig werden seyn, oder nicht. <lb n="p2c_625.026"/> So haben die französischen Tragiker ihre Zuflucht immer zu <lb n="p2c_625.027"/> <hi rendition="#g">Vertrauten</hi> genommen, z. B. Corneille in dem Horaz. <lb n="p2c_625.028"/> Voltaire in seinem Oedipus hat auch zwey Vertraute. Das </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [625/0149]
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durch Verwicklungen zu sehr beschäftigt, hat er zu viel zu p2c_625.002
grübeln, über die Triebfeder der Handlungen, über die Umstände, p2c_625.003
(wie z. B. im Don Carlos wegen Posas Tod) so p2c_625.004
hat der Geist keine Muse, das Erhabene des Ganzen zu empfinden. p2c_625.005
Jm Lustspiel, in der Oper, hat der Verstand p2c_625.006
wegen der Munterkeit der Gemüthsstimmung Spielraum. p2c_625.007
Es kann ihm, wie z. B. in Figaros Hochzeit Stoff zu grübeln, p2c_625.008
gegeben werden. Daher heißt die Fabel des Lustspiels Jntrigue. p2c_625.009
Die höhere Tragödie sollte nie zum Jnhalt p2c_625.010
eine Jntrigue haben. Die besten Trauerspiele, der Oedipus p2c_625.011
Coloneus, die Antigone sind ganz einfach, ohne verwickelte p2c_625.012
Situationen. Oedipus Tyrannus ist verwickelter und steht p2c_625.013
hier gewissermaßen an der Gränze. Allein die Verwicklung p2c_625.014
ist doch planmäßig, es geht alles so leicht und faßlich auseinander, p2c_625.015
daß der Verstand keinen Zweifel behält, und das p2c_625.016
Ganze eben so schnell ahnet, als übersieht. Die Einfachheit p2c_625.017
der Handlung wird durch Ein herrschendes Hauptinteresse, p2c_625.018
durch die Beziehung des Ganzen auf das Schicksal p2c_625.019
weniger Personen bewirkt. Jn dem erzählenden Gedicht p2c_625.020
kann viel eingeschaltet werden. Aber in der Tragödie p2c_625.021
hat man keine Zeit auf Nebendinge zu sehn. Es ist der p2c_625.022
höchste Moment der Thätigkeit (ακμη). Daher muß es p2c_625.023
keine überflüßige Personen geben, die offenbar blos Behelfe p2c_625.024
des Dichters sind. Jhre Menge verwirrt den Zuschauer. p2c_625.025
Man weiß nicht, ob sie nöthig werden seyn, oder nicht. p2c_625.026
So haben die französischen Tragiker ihre Zuflucht immer zu p2c_625.027
Vertrauten genommen, z. B. Corneille in dem Horaz. p2c_625.028
Voltaire in seinem Oedipus hat auch zwey Vertraute. Das
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