Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_621.001 p2c_621.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0145" n="621"/><lb n="p2c_621.001"/> eher Fehler hin, als dem tragischen, weil hier jeder Fehler <lb n="p2c_621.002"/> gegen das Ganze eher gefühlt wird. Sophocles ist ein <lb n="p2c_621.003"/> vollkommnerer Dichter, wie Homer, dieser aber ein größerer. <lb n="p2c_621.004"/> Der <hi rendition="#g">Jnnhalt</hi> der Tragödie wird gewöhnlich nach <lb n="p2c_621.005"/> dem Aristoteles in das <foreign xml:lang="grc">φοβερον και ἐλεεινον</foreign> gesetzt, an <lb n="p2c_621.006"/> welches der griechische Philosoph das menschliche Auge gewöhnt <lb n="p2c_621.007"/> wissen will. Jndessen machen weder jene Leidenschaften, <lb n="p2c_621.008"/> noch ein unglücklicher Ausgang das Wesen des <lb n="p2c_621.009"/> <hi rendition="#g">Trauerspiels</hi> aus. Einige fanden darinnen einen Unterschied <lb n="p2c_621.010"/> zwischen Epopöe und Tragödie, daß in der ersten <lb n="p2c_621.011"/> der Held siegen, in der letztern unterliegen müßte. Allein <lb n="p2c_621.012"/> was heißt dies <hi rendition="#g">unterliegen?</hi> Soll der Hauptheld allemal <lb n="p2c_621.013"/> sterben? Dies ist nicht immer der Fall. <hi rendition="#g">Brutus</hi> <lb n="p2c_621.014"/> läßt seine Söhne hinrichten. Dies giebt dem <hi rendition="#g">Voltaire,</hi> <lb n="p2c_621.015"/> dem <hi rendition="#g">Alfieri</hi> Stoff zu einem Trauerspiel. Brutus ist <lb n="p2c_621.016"/> Hauptheld. Aber er stirbt nicht. Soll <hi rendition="#g">unterliegen</hi> <lb n="p2c_621.017"/> heißen seinen Zweck verfehlen? Auch wieder nicht; wie oft <lb n="p2c_621.018"/> erreicht ein Held gerade seinen Zweck durch den Tod, wie <lb n="p2c_621.019"/> oft siegt er über seine niedere Natur, wie <hi rendition="#g">Antigone.</hi> <lb n="p2c_621.020"/> Daß in der Tragödie nothwendig Fürsten und Könige handeln <lb n="p2c_621.021"/> müssen, gehört auch nicht zu ihrem Wesen, wiewohl <lb n="p2c_621.022"/> jene Personen öfter in tragische Verhältnisse kommen, wie <lb n="p2c_621.023"/> andere. Man kennt längst auch das bürgerliche Trauerspiel. <lb n="p2c_621.024"/> Also ist der Jnnhalt der Tragödie in eine <hi rendition="#g">heroische</hi> <lb n="p2c_621.025"/> Handlung zu setzen, in einen großen Kampf der <hi rendition="#g">Frey=</hi> <lb n="p2c_621.026"/> heit mit dem Schicksal, mit dem niedern Begehrungsvermögen.</p> <lb n="p2c_621.027"/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [621/0145]
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eher Fehler hin, als dem tragischen, weil hier jeder Fehler p2c_621.002
gegen das Ganze eher gefühlt wird. Sophocles ist ein p2c_621.003
vollkommnerer Dichter, wie Homer, dieser aber ein größerer. p2c_621.004
Der Jnnhalt der Tragödie wird gewöhnlich nach p2c_621.005
dem Aristoteles in das φοβερον και ἐλεεινον gesetzt, an p2c_621.006
welches der griechische Philosoph das menschliche Auge gewöhnt p2c_621.007
wissen will. Jndessen machen weder jene Leidenschaften, p2c_621.008
noch ein unglücklicher Ausgang das Wesen des p2c_621.009
Trauerspiels aus. Einige fanden darinnen einen Unterschied p2c_621.010
zwischen Epopöe und Tragödie, daß in der ersten p2c_621.011
der Held siegen, in der letztern unterliegen müßte. Allein p2c_621.012
was heißt dies unterliegen? Soll der Hauptheld allemal p2c_621.013
sterben? Dies ist nicht immer der Fall. Brutus p2c_621.014
läßt seine Söhne hinrichten. Dies giebt dem Voltaire, p2c_621.015
dem Alfieri Stoff zu einem Trauerspiel. Brutus ist p2c_621.016
Hauptheld. Aber er stirbt nicht. Soll unterliegen p2c_621.017
heißen seinen Zweck verfehlen? Auch wieder nicht; wie oft p2c_621.018
erreicht ein Held gerade seinen Zweck durch den Tod, wie p2c_621.019
oft siegt er über seine niedere Natur, wie Antigone. p2c_621.020
Daß in der Tragödie nothwendig Fürsten und Könige handeln p2c_621.021
müssen, gehört auch nicht zu ihrem Wesen, wiewohl p2c_621.022
jene Personen öfter in tragische Verhältnisse kommen, wie p2c_621.023
andere. Man kennt längst auch das bürgerliche Trauerspiel. p2c_621.024
Also ist der Jnnhalt der Tragödie in eine heroische p2c_621.025
Handlung zu setzen, in einen großen Kampf der Frey= p2c_621.026
heit mit dem Schicksal, mit dem niedern Begehrungsvermögen.
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