p1c_354.001 ihn schon gebraucht hätten. Die Dichter hätten Runers,p1c_354.002 ihre Gedichte Runen geheißen, und daher sey auch das p1c_354.003 Wort Reim gekommen. Wer will aber hiervon etwas wissen, p1c_354.004 da jene Barden nicht schrieben, da erst Karl der Große p1c_354.005 ihre Gesänge sammeln ließ, und wenn wir diese Sammlung p1c_354.006 auch noch besäßen, aus der Orthographie auf die Aussprache p1c_354.007 noch nicht allemal zu schließen wär? Darum läßt sich auch p1c_354.008 nicht sagen, ob in der Edda, ob im Ossian Reime zu p1c_354.009 finden seyn? wenn man gleich in den Liedern der ersten p1c_354.010 amilli, fremri, landi, in den Ossianischen Fragmenten p1c_354.011 closs, cos, dearg, shearg u. s. w. findet. Gefühl p1c_354.012 für eine Art Assonanz mögen sie freylich gehabt haben. p1c_354.013 Doch ist dies mit den Regeln der eigentlichen Reimkunstp1c_354.014 gar nicht zu vergleichen. Diese wurde erst von den Morgenländern p1c_354.015 kultivirt und nach Europa gebracht. Dem sey, p1c_354.016 wie ihm wolle, so nahm die neuere und insbesondre die p1c_354.017 deutsche Poesie den Reim als wesentlichen Begleiter des p1c_354.018 Rhythmus, ohne übrigens auf Zahl und Quantität der p1c_354.019 Sylben Rücksicht zu nehmen, zeitig an. Dies bezeugen p1c_354.020 unsre sprüchwörtlichen Redensarten, die oft gereimt sind p1c_354.021 und sich vielleicht aus den ältsten Zeiten herschreiben. Durch p1c_354.022 den Reim wurde die Sentenz ein abgeschnittnes Ganze, dessen p1c_354.023 Theile, Disticha oder Tetrasticha, sich auf einander p1c_354.024 bezogen, und verleibte sich leichter dem Gedächtnisse ein. p1c_354.025 Aus einem ähnlichen Grunde läßt Shakespear seine tragischen p1c_354.026 Personen, die vorher in reimfreyen Jamben gesprochen p1c_354.027 haben, mit einer gereimten Sentenz abgehn. Ein solches p1c_354.028 Epiphonem wird dadurch ausgezeichnet und herausgehoben.
p1c_354.001 ihn schon gebraucht hätten. Die Dichter hätten Runers,p1c_354.002 ihre Gedichte Runen geheißen, und daher sey auch das p1c_354.003 Wort Reim gekommen. Wer will aber hiervon etwas wissen, p1c_354.004 da jene Barden nicht schrieben, da erst Karl der Große p1c_354.005 ihre Gesänge sammeln ließ, und wenn wir diese Sammlung p1c_354.006 auch noch besäßen, aus der Orthographie auf die Aussprache p1c_354.007 noch nicht allemal zu schließen wär? Darum läßt sich auch p1c_354.008 nicht sagen, ob in der Edda, ob im Ossian Reime zu p1c_354.009 finden seyn? wenn man gleich in den Liedern der ersten p1c_354.010 amilli, fremri, landi, in den Ossianischen Fragmenten p1c_354.011 closs, cos, dearg, shearg u. s. w. findet. Gefühl p1c_354.012 für eine Art Assonanz mögen sie freylich gehabt haben. p1c_354.013 Doch ist dies mit den Regeln der eigentlichen Reimkunstp1c_354.014 gar nicht zu vergleichen. Diese wurde erst von den Morgenländern p1c_354.015 kultivirt und nach Europa gebracht. Dem sey, p1c_354.016 wie ihm wolle, so nahm die neuere und insbesondre die p1c_354.017 deutsche Poesie den Reim als wesentlichen Begleiter des p1c_354.018 Rhythmus, ohne übrigens auf Zahl und Quantität der p1c_354.019 Sylben Rücksicht zu nehmen, zeitig an. Dies bezeugen p1c_354.020 unsre sprüchwörtlichen Redensarten, die oft gereimt sind p1c_354.021 und sich vielleicht aus den ältsten Zeiten herschreiben. Durch p1c_354.022 den Reim wurde die Sentenz ein abgeschnittnes Ganze, dessen p1c_354.023 Theile, Disticha oder Tetrasticha, sich auf einander p1c_354.024 bezogen, und verleibte sich leichter dem Gedächtnisse ein. p1c_354.025 Aus einem ähnlichen Grunde läßt Shakespear seine tragischen p1c_354.026 Personen, die vorher in reimfreyen Jamben gesprochen p1c_354.027 haben, mit einer gereimten Sentenz abgehn. Ein solches p1c_354.028 Epiphonem wird dadurch ausgezeichnet und herausgehoben.
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/412>, abgerufen am 23.11.2024.
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