Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_337.001
der Zeit anschaulich gemacht. Aber man unterscheidet p1c_337.002
doch das, was sich in der Zeit bewegt, von der Zeit p1c_337.003
selbst, und in dieser Bewegung denkt sich der Geist eine freye p1c_337.004
Kraft. Jn so fern er nun nach und nach mehrere Bewegungen p1c_337.005
von einander abhängig macht, und meynt, daß die eine p1c_337.006
ihrer Zeitlänge nach so oder anders folgen müsse, in so fern p1c_337.007
schreibt er der sich bewegenden Kraft eine Art Gesetzlichkeit p1c_337.008
zu. Diese Gesetzlichkeit nennt man Rhythmus. Bey p1c_337.009
der Ton- und Wortfolge äußert sich also der Rhythmus als p1c_337.010
eine Abtheilung der Zeit durch Töne, wodurch diese Töne in p1c_337.011
Ansehung ihrer Längen durch das Vorhergehende auf eine gewisse p1c_337.012
Art bestimmt werden. Der Rhythmus setzt also p1c_337.013
voraus: 1) Zeitabtheilung durch Töne, 2) welche ihrer p1c_337.014
Länge nach mit einander verglichen durch das Ohr auf einander p1c_337.015
bezogen werden, 3) allein wohl zu merken nach keinem p1c_337.016
bestimmten nothwendig in einer Ordnung wiederkehrenden p1c_337.017
Maaße. Denn ein bleibendes Maaß gäbe die dritte Vernunftidee p1c_337.018
der Totalität. Der Rhythmus aber ist das p1c_337.019
Schema der gesetzlichen Evolution einer Kraft oder Caussalität, p1c_337.020
ohne ein Maaß, das berechnet werden könnte, und p1c_337.021
man muß ihn demnach vom Metrum unterscheiden. Niemand p1c_337.022
hat dies so bestimmt und deutlich gefühlt, als Quinctilian. p1c_337.023
Rhythmi, id est numeri, sagt er im 9ten Buche, p1c_337.024
spatio temporum constant, metra etiam ordine p1c_337.025
- sunt et metrici pedes, sed hoc interest, quod p1c_337.026
rhythmo indifferens est, dactylusne priores habeat p1c_337.027
breves an sequentes, tempus enim solum metitur - p1c_337.028
in versu non poni poterit pro dactylo anapaestus -

p1c_337.001
der Zeit anschaulich gemacht. Aber man unterscheidet p1c_337.002
doch das, was sich in der Zeit bewegt, von der Zeit p1c_337.003
selbst, und in dieser Bewegung denkt sich der Geist eine freye p1c_337.004
Kraft. Jn so fern er nun nach und nach mehrere Bewegungen p1c_337.005
von einander abhängig macht, und meynt, daß die eine p1c_337.006
ihrer Zeitlänge nach so oder anders folgen müsse, in so fern p1c_337.007
schreibt er der sich bewegenden Kraft eine Art Gesetzlichkeit p1c_337.008
zu. Diese Gesetzlichkeit nennt man Rhythmus. Bey p1c_337.009
der Ton- und Wortfolge äußert sich also der Rhythmus als p1c_337.010
eine Abtheilung der Zeit durch Töne, wodurch diese Töne in p1c_337.011
Ansehung ihrer Längen durch das Vorhergehende auf eine gewisse p1c_337.012
Art bestimmt werden. Der Rhythmus setzt also p1c_337.013
voraus: 1) Zeitabtheilung durch Töne, 2) welche ihrer p1c_337.014
Länge nach mit einander verglichen durch das Ohr auf einander p1c_337.015
bezogen werden, 3) allein wohl zu merken nach keinem p1c_337.016
bestimmten nothwendig in einer Ordnung wiederkehrenden p1c_337.017
Maaße. Denn ein bleibendes Maaß gäbe die dritte Vernunftidee p1c_337.018
der Totalität. Der Rhythmus aber ist das p1c_337.019
Schema der gesetzlichen Evolution einer Kraft oder Caussalität, p1c_337.020
ohne ein Maaß, das berechnet werden könnte, und p1c_337.021
man muß ihn demnach vom Metrum unterscheiden. Niemand p1c_337.022
hat dies so bestimmt und deutlich gefühlt, als Quinctilian. p1c_337.023
Rhythmi, id est numeri, sagt er im 9ten Buche, p1c_337.024
spatio temporum constant, metra etiam ordine p1c_337.025
─ sunt et metrici pedes, sed hoc interest, quod p1c_337.026
rhythmo indifferens est, dactylusne priores habeat p1c_337.027
breves an sequentes, tempus enim solum metitur ─ p1c_337.028
in versu non poni poterit pro dactylo anapaestus ─

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0395" n="337"/><lb n="p1c_337.001"/>
der Zeit anschaulich gemacht. Aber man unterscheidet <lb n="p1c_337.002"/>
doch das, was sich <hi rendition="#g">in der</hi> Zeit <hi rendition="#g">bewegt,</hi> von der Zeit <lb n="p1c_337.003"/>
selbst, und in dieser Bewegung denkt sich der Geist eine freye <lb n="p1c_337.004"/>
Kraft. Jn so fern er nun nach und nach mehrere Bewegungen <lb n="p1c_337.005"/>
von einander abhängig macht, und meynt, daß die eine <lb n="p1c_337.006"/>
ihrer Zeitlänge nach so oder anders folgen müsse, in so fern <lb n="p1c_337.007"/>
schreibt er der sich bewegenden Kraft eine Art <hi rendition="#g">Gesetzlichkeit</hi> <lb n="p1c_337.008"/>
zu. Diese Gesetzlichkeit nennt man <hi rendition="#g">Rhythmus.</hi> Bey <lb n="p1c_337.009"/>
der Ton- und Wortfolge äußert sich also der <hi rendition="#g">Rhythmus</hi> als <lb n="p1c_337.010"/>
eine Abtheilung der Zeit durch Töne, wodurch diese Töne in <lb n="p1c_337.011"/>
Ansehung ihrer Längen durch das Vorhergehende auf eine gewisse <lb n="p1c_337.012"/>
Art bestimmt werden. Der <hi rendition="#g">Rhythmus</hi> setzt also <lb n="p1c_337.013"/>
voraus: 1) Zeitabtheilung durch Töne, 2) welche ihrer <lb n="p1c_337.014"/>
Länge nach mit einander verglichen durch das Ohr auf einander <lb n="p1c_337.015"/>
bezogen werden, 3) allein wohl zu merken nach keinem <lb n="p1c_337.016"/>
bestimmten nothwendig in einer Ordnung wiederkehrenden <lb n="p1c_337.017"/>
Maaße. Denn ein bleibendes Maaß gäbe die dritte Vernunftidee <lb n="p1c_337.018"/>
der Totalität. Der <hi rendition="#g">Rhythmus</hi> aber ist das <lb n="p1c_337.019"/> <hi rendition="#g">Schema</hi> der gesetzlichen Evolution einer Kraft oder Caussalität, <lb n="p1c_337.020"/>
ohne ein Maaß, das berechnet werden könnte, und <lb n="p1c_337.021"/>
man muß ihn demnach vom <hi rendition="#g">Metrum</hi> unterscheiden. Niemand <lb n="p1c_337.022"/>
hat dies so bestimmt und deutlich gefühlt, als Quinctilian. <lb n="p1c_337.023"/> <hi rendition="#aq">Rhythmi, id est numeri</hi>, sagt er im 9ten Buche, <lb n="p1c_337.024"/> <hi rendition="#aq">spatio temporum constant, metra etiam ordine <lb n="p1c_337.025"/>
&#x2500; sunt et metrici pedes, sed hoc interest, quod <lb n="p1c_337.026"/>
rhythmo indifferens est, dactylusne priores habeat <lb n="p1c_337.027"/>
breves an sequentes, tempus enim solum metitur &#x2500; <lb n="p1c_337.028"/>
in versu non poni poterit pro dactylo anapaestus &#x2500;
</hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[337/0395] p1c_337.001 der Zeit anschaulich gemacht. Aber man unterscheidet p1c_337.002 doch das, was sich in der Zeit bewegt, von der Zeit p1c_337.003 selbst, und in dieser Bewegung denkt sich der Geist eine freye p1c_337.004 Kraft. Jn so fern er nun nach und nach mehrere Bewegungen p1c_337.005 von einander abhängig macht, und meynt, daß die eine p1c_337.006 ihrer Zeitlänge nach so oder anders folgen müsse, in so fern p1c_337.007 schreibt er der sich bewegenden Kraft eine Art Gesetzlichkeit p1c_337.008 zu. Diese Gesetzlichkeit nennt man Rhythmus. Bey p1c_337.009 der Ton- und Wortfolge äußert sich also der Rhythmus als p1c_337.010 eine Abtheilung der Zeit durch Töne, wodurch diese Töne in p1c_337.011 Ansehung ihrer Längen durch das Vorhergehende auf eine gewisse p1c_337.012 Art bestimmt werden. Der Rhythmus setzt also p1c_337.013 voraus: 1) Zeitabtheilung durch Töne, 2) welche ihrer p1c_337.014 Länge nach mit einander verglichen durch das Ohr auf einander p1c_337.015 bezogen werden, 3) allein wohl zu merken nach keinem p1c_337.016 bestimmten nothwendig in einer Ordnung wiederkehrenden p1c_337.017 Maaße. Denn ein bleibendes Maaß gäbe die dritte Vernunftidee p1c_337.018 der Totalität. Der Rhythmus aber ist das p1c_337.019 Schema der gesetzlichen Evolution einer Kraft oder Caussalität, p1c_337.020 ohne ein Maaß, das berechnet werden könnte, und p1c_337.021 man muß ihn demnach vom Metrum unterscheiden. Niemand p1c_337.022 hat dies so bestimmt und deutlich gefühlt, als Quinctilian. p1c_337.023 Rhythmi, id est numeri, sagt er im 9ten Buche, p1c_337.024 spatio temporum constant, metra etiam ordine p1c_337.025 ─ sunt et metrici pedes, sed hoc interest, quod p1c_337.026 rhythmo indifferens est, dactylusne priores habeat p1c_337.027 breves an sequentes, tempus enim solum metitur ─ p1c_337.028 in versu non poni poterit pro dactylo anapaestus ─

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/395
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/395>, abgerufen am 23.11.2024.