p1c_212.001 Phantasie erwecken; eines Vermögens, welches sich von p1c_212.002 der kalten Abstraction des Verstandes und den üppigen Anschauungen p1c_212.003 der Sinne gleichweit entfernt. Die schöne p1c_212.004 Gedankenreihe muß also einen Zustand hervorbringen, p1c_212.005 der im Gegensatz von dem bestimmten Denken Empfindungp1c_212.006 (aisthesis) und im Gegensatz von dem nicht spontaneischen p1c_212.007 oder blos receptiven Anschaun sinnlich individueller p1c_212.008 Gegenstände Einbildung (phantasia) heißt. p1c_212.009 Beydes zusammen, Einbildung und Empfindung,p1c_212.010 giebt eine selige Gemüthsstimmung, welche Begeisterungp1c_212.011 genannt wird. Diese wird durch das Erfindenp1c_212.012 und Dichten der Phantasie hervorgebracht, und muß p1c_212.013 nicht nur beym Künstler, sondern auch bey dem, der das p1c_212.014 Kunstwerk genießt, statt finden. Man kann also Begeisterungp1c_212.015 und ästhetische (im engern Sinne) oder phantastische p1c_212.016 Empfindung, oder Empfindung des Schönen, p1c_212.017 für eins brauchen. Denn die Begeisterung, welche sich p1c_212.018 nicht mittheilen kann, ist keine schöpferische. Begeisterungp1c_212.019 ist nicht blos stürmisches Schaffen, sondern p1c_212.020 auch Genießen. Und der Genuß ist auch mehr als ein p1c_212.021 bloßes Geschmacksurtheil, daß hier Empfindungp1c_212.022 des Schönen statt finden könne. Auch ist das eben der p1c_212.023 Charakter eines höhern Kunstwerks, daß dadurch, wer es p1c_212.024 genießt, seine Phantasie zu selbstthätigem Schaffen erweckt p1c_212.025 fühlt. Die Begeisterung setzt die Phantasie allein in p1c_212.026 den Stand, das freyste, höchste Leben zu gewinnen, gleichsam p1c_212.027 die ganze Sphäre möglicher individueller Anschauungen p1c_212.028 zu durchlaufen und durch einen himmlischen Jnstinkt des Geistes
p1c_212.001 Phantasie erwecken; eines Vermögens, welches sich von p1c_212.002 der kalten Abstraction des Verstandes und den üppigen Anschauungen p1c_212.003 der Sinne gleichweit entfernt. Die schöne p1c_212.004 Gedankenreihe muß also einen Zustand hervorbringen, p1c_212.005 der im Gegensatz von dem bestimmten Denken Empfindungp1c_212.006 (αἰσθησις) und im Gegensatz von dem nicht spontaneischen p1c_212.007 oder blos receptiven Anschaun sinnlich individueller p1c_212.008 Gegenstände Einbildung (φαντασια) heißt. p1c_212.009 Beydes zusammen, Einbildung und Empfindung,p1c_212.010 giebt eine selige Gemüthsstimmung, welche Begeisterungp1c_212.011 genannt wird. Diese wird durch das Erfindenp1c_212.012 und Dichten der Phantasie hervorgebracht, und muß p1c_212.013 nicht nur beym Künstler, sondern auch bey dem, der das p1c_212.014 Kunstwerk genießt, statt finden. Man kann also Begeisterungp1c_212.015 und ästhetische (im engern Sinne) oder phantastische p1c_212.016 Empfindung, oder Empfindung des Schönen, p1c_212.017 für eins brauchen. Denn die Begeisterung, welche sich p1c_212.018 nicht mittheilen kann, ist keine schöpferische. Begeisterungp1c_212.019 ist nicht blos stürmisches Schaffen, sondern p1c_212.020 auch Genießen. Und der Genuß ist auch mehr als ein p1c_212.021 bloßes Geschmacksurtheil, daß hier Empfindungp1c_212.022 des Schönen statt finden könne. Auch ist das eben der p1c_212.023 Charakter eines höhern Kunstwerks, daß dadurch, wer es p1c_212.024 genießt, seine Phantasie zu selbstthätigem Schaffen erweckt p1c_212.025 fühlt. Die Begeisterung setzt die Phantasie allein in p1c_212.026 den Stand, das freyste, höchste Leben zu gewinnen, gleichsam p1c_212.027 die ganze Sphäre möglicher individueller Anschauungen p1c_212.028 zu durchlaufen und durch einen himmlischen Jnstinkt des Geistes
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Phantasie erwecken; eines Vermögens, welches sich von p1c_212.002
der kalten Abstraction des Verstandes und den üppigen Anschauungen p1c_212.003
der Sinne gleichweit entfernt. Die schöne p1c_212.004
Gedankenreihe muß also einen Zustand hervorbringen, p1c_212.005
der im Gegensatz von dem bestimmten Denken Empfindung p1c_212.006
(αἰσθησις) und im Gegensatz von dem nicht spontaneischen p1c_212.007
oder blos receptiven Anschaun sinnlich individueller p1c_212.008
Gegenstände Einbildung (φαντασια) heißt. p1c_212.009
Beydes zusammen, Einbildung und Empfindung, p1c_212.010
giebt eine selige Gemüthsstimmung, welche Begeisterung p1c_212.011
genannt wird. Diese wird durch das Erfinden p1c_212.012
und Dichten der Phantasie hervorgebracht, und muß p1c_212.013
nicht nur beym Künstler, sondern auch bey dem, der das p1c_212.014
Kunstwerk genießt, statt finden. Man kann also Begeisterung p1c_212.015
und ästhetische (im engern Sinne) oder phantastische p1c_212.016
Empfindung, oder Empfindung des Schönen, p1c_212.017
für eins brauchen. Denn die Begeisterung, welche sich p1c_212.018
nicht mittheilen kann, ist keine schöpferische. Begeisterung p1c_212.019
ist nicht blos stürmisches Schaffen, sondern p1c_212.020
auch Genießen. Und der Genuß ist auch mehr als ein p1c_212.021
bloßes Geschmacksurtheil, daß hier Empfindung p1c_212.022
des Schönen statt finden könne. Auch ist das eben der p1c_212.023
Charakter eines höhern Kunstwerks, daß dadurch, wer es p1c_212.024
genießt, seine Phantasie zu selbstthätigem Schaffen erweckt p1c_212.025
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/270>, abgerufen am 27.11.2024.
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