Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_061.001
Schöpfung mit Offenbarung beginnen sollte. Die aufgeklärtesten p1c_061.002
Nationen bedecken die Erde, Kronen werden gestohlen p1c_061.003
und Reiche gegründet, Heldenheere schlagen sich um p1c_061.004
den Besitz von mehr als einem Welttheile, Geschichtschreiber p1c_061.005
und Dichter lassen auch nicht die geringste Thatsache untergehen, p1c_061.006
die nur die Sonne bescheinen und das Genie verherrlichen p1c_061.007
kann. Da singen in einer heiligen Nacht, weissagend p1c_061.008
ein neues Weltgeschick, Engel bey der Wiege eines p1c_061.009
Kindes, und die Menschen vernehmens nicht. Christus der p1c_061.010
Gott lebt, lehrt, wird gemordet, und die Menschen vernehmens p1c_061.011
nicht. Jn dem Munde einiger armen Fischer p1c_061.012
erhält sich die ehrwürdige Sage. Und siehe! auf einmal p1c_061.013
ist die Erde umgewandelt, umgeschaffen, ehe sie es selbst p1c_061.014
weiß. Es ist empörend, wenn man sieht, wie so genannte p1c_061.015
Aufklärer, wie sogar Theologen den Finger Gottes so ganz p1c_061.016
verkennen konnten, daß sie die himmlische Poesie des Evangeliums, p1c_061.017
die sich als höchst idealische Wahrheit in jedem p1c_061.018
Herzen ankündigt, einer bald stolzen, bald furchtsamen p1c_061.019
historischen Real-Kritik unterwerfen konnten. Es p1c_061.020
ist empörend, wenn man sieht, wie so viele Theologen, als p1c_061.021
wahre jüdische Schriftgelehrte, ihre ganze Theologie und p1c_061.022
Religion nur in eine historische Kenntniß der christlichen p1c_061.023
Alterthümer setzen. Unübertreflich wahr sagt Luther p1c_061.024
in seiner Vorrede zum Neuen Testament: "Und gleichwie p1c_061.025
Christi Werke und Geschichte wissen, ist noch nicht das rechte p1c_061.026
Evangelium wissen, denn damit weißt du noch nicht, daß p1c_061.027
er die Sünde, Tod und Teufel überwunden hat. Also ist p1c_061.028
auch das noch nicht das Evangelium wissen, wenn du solche

p1c_061.001
Schöpfung mit Offenbarung beginnen sollte. Die aufgeklärtesten p1c_061.002
Nationen bedecken die Erde, Kronen werden gestohlen p1c_061.003
und Reiche gegründet, Heldenheere schlagen sich um p1c_061.004
den Besitz von mehr als einem Welttheile, Geschichtschreiber p1c_061.005
und Dichter lassen auch nicht die geringste Thatsache untergehen, p1c_061.006
die nur die Sonne bescheinen und das Genie verherrlichen p1c_061.007
kann. Da singen in einer heiligen Nacht, weissagend p1c_061.008
ein neues Weltgeschick, Engel bey der Wiege eines p1c_061.009
Kindes, und die Menschen vernehmens nicht. Christus der p1c_061.010
Gott lebt, lehrt, wird gemordet, und die Menschen vernehmens p1c_061.011
nicht. Jn dem Munde einiger armen Fischer p1c_061.012
erhält sich die ehrwürdige Sage. Und siehe! auf einmal p1c_061.013
ist die Erde umgewandelt, umgeschaffen, ehe sie es selbst p1c_061.014
weiß. Es ist empörend, wenn man sieht, wie so genannte p1c_061.015
Aufklärer, wie sogar Theologen den Finger Gottes so ganz p1c_061.016
verkennen konnten, daß sie die himmlische Poesie des Evangeliums, p1c_061.017
die sich als höchst idealische Wahrheit in jedem p1c_061.018
Herzen ankündigt, einer bald stolzen, bald furchtsamen p1c_061.019
historischen Real-Kritik unterwerfen konnten. Es p1c_061.020
ist empörend, wenn man sieht, wie so viele Theologen, als p1c_061.021
wahre jüdische Schriftgelehrte, ihre ganze Theologie und p1c_061.022
Religion nur in eine historische Kenntniß der christlichen p1c_061.023
Alterthümer setzen. Unübertreflich wahr sagt Luther p1c_061.024
in seiner Vorrede zum Neuen Testament: „Und gleichwie p1c_061.025
Christi Werke und Geschichte wissen, ist noch nicht das rechte p1c_061.026
Evangelium wissen, denn damit weißt du noch nicht, daß p1c_061.027
er die Sünde, Tod und Teufel überwunden hat. Also ist p1c_061.028
auch das noch nicht das Evangelium wissen, wenn du solche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="61"/><lb n="p1c_061.001"/>
Schöpfung mit Offenbarung beginnen sollte. Die aufgeklärtesten <lb n="p1c_061.002"/>
Nationen bedecken die Erde, Kronen werden gestohlen <lb n="p1c_061.003"/>
und Reiche gegründet, Heldenheere schlagen sich um <lb n="p1c_061.004"/>
den Besitz von mehr als einem Welttheile, Geschichtschreiber <lb n="p1c_061.005"/>
und Dichter lassen auch nicht die geringste Thatsache untergehen, <lb n="p1c_061.006"/>
die nur die Sonne bescheinen und das Genie verherrlichen <lb n="p1c_061.007"/>
kann. Da singen in einer heiligen Nacht, weissagend <lb n="p1c_061.008"/>
ein neues Weltgeschick, Engel bey der Wiege eines <lb n="p1c_061.009"/>
Kindes, und die Menschen vernehmens nicht. Christus der <lb n="p1c_061.010"/>
Gott lebt, lehrt, wird gemordet, und die Menschen vernehmens <lb n="p1c_061.011"/>
nicht. Jn dem Munde einiger armen Fischer <lb n="p1c_061.012"/>
erhält sich die ehrwürdige Sage. Und siehe! auf einmal <lb n="p1c_061.013"/>
ist die Erde umgewandelt, umgeschaffen, ehe sie es selbst <lb n="p1c_061.014"/>
weiß. Es ist empörend, wenn man sieht, wie so genannte <lb n="p1c_061.015"/>
Aufklärer, wie sogar Theologen den Finger Gottes so ganz <lb n="p1c_061.016"/>
verkennen konnten, daß sie die himmlische Poesie des Evangeliums, <lb n="p1c_061.017"/>
die sich als höchst <hi rendition="#g">idealische</hi> Wahrheit in jedem <lb n="p1c_061.018"/>
Herzen ankündigt, einer bald stolzen, bald furchtsamen <lb n="p1c_061.019"/> <hi rendition="#g">historischen Real-Kritik</hi> unterwerfen konnten. Es <lb n="p1c_061.020"/>
ist empörend, wenn man sieht, wie so viele Theologen, als <lb n="p1c_061.021"/>
wahre jüdische Schriftgelehrte, ihre ganze Theologie und <lb n="p1c_061.022"/>
Religion nur in eine <hi rendition="#g">historische Kenntniß</hi> der christlichen <lb n="p1c_061.023"/>
Alterthümer setzen. Unübertreflich wahr sagt Luther <lb n="p1c_061.024"/>
in seiner Vorrede zum Neuen Testament: &#x201E;Und gleichwie <lb n="p1c_061.025"/>
Christi Werke und Geschichte wissen, ist noch nicht das rechte <lb n="p1c_061.026"/>
Evangelium wissen, denn damit weißt du noch nicht, daß <lb n="p1c_061.027"/>
er die Sünde, Tod und Teufel überwunden hat. Also ist <lb n="p1c_061.028"/>
auch das noch nicht das Evangelium wissen, wenn du solche
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0119] p1c_061.001 Schöpfung mit Offenbarung beginnen sollte. Die aufgeklärtesten p1c_061.002 Nationen bedecken die Erde, Kronen werden gestohlen p1c_061.003 und Reiche gegründet, Heldenheere schlagen sich um p1c_061.004 den Besitz von mehr als einem Welttheile, Geschichtschreiber p1c_061.005 und Dichter lassen auch nicht die geringste Thatsache untergehen, p1c_061.006 die nur die Sonne bescheinen und das Genie verherrlichen p1c_061.007 kann. Da singen in einer heiligen Nacht, weissagend p1c_061.008 ein neues Weltgeschick, Engel bey der Wiege eines p1c_061.009 Kindes, und die Menschen vernehmens nicht. Christus der p1c_061.010 Gott lebt, lehrt, wird gemordet, und die Menschen vernehmens p1c_061.011 nicht. Jn dem Munde einiger armen Fischer p1c_061.012 erhält sich die ehrwürdige Sage. Und siehe! auf einmal p1c_061.013 ist die Erde umgewandelt, umgeschaffen, ehe sie es selbst p1c_061.014 weiß. Es ist empörend, wenn man sieht, wie so genannte p1c_061.015 Aufklärer, wie sogar Theologen den Finger Gottes so ganz p1c_061.016 verkennen konnten, daß sie die himmlische Poesie des Evangeliums, p1c_061.017 die sich als höchst idealische Wahrheit in jedem p1c_061.018 Herzen ankündigt, einer bald stolzen, bald furchtsamen p1c_061.019 historischen Real-Kritik unterwerfen konnten. Es p1c_061.020 ist empörend, wenn man sieht, wie so viele Theologen, als p1c_061.021 wahre jüdische Schriftgelehrte, ihre ganze Theologie und p1c_061.022 Religion nur in eine historische Kenntniß der christlichen p1c_061.023 Alterthümer setzen. Unübertreflich wahr sagt Luther p1c_061.024 in seiner Vorrede zum Neuen Testament: „Und gleichwie p1c_061.025 Christi Werke und Geschichte wissen, ist noch nicht das rechte p1c_061.026 Evangelium wissen, denn damit weißt du noch nicht, daß p1c_061.027 er die Sünde, Tod und Teufel überwunden hat. Also ist p1c_061.028 auch das noch nicht das Evangelium wissen, wenn du solche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/119
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/119>, abgerufen am 23.11.2024.