Das unglückliche Blatt flog in meiner Hand; ich sank erstarrt nieder, und wähnte mich im Arme irgend eines schrecklichen Traums. Aber das Erwachen zum wirklichen Leben erinnerte mich an die furchtbare Wahrheit dessen, was sich begeben: ich hatte sie verloren! -- Antonie mogte von meinem letzten Schritte gehört haben, sie verweigerte mir nicht mehr, mich zu sehn, und gestand mir unter heißen Thränen, daß Marie fort sei, niemand wisse wohin. Ich war wie vernichtet, keines Entschlusses fähig, und schwankte umher, wie ein Schatten. Ein dringender Brief von Maiberg lud mich zu ihm ein; er machte mir nebst seiner Familie lebhafte Vorwürfe, wes¬ halb ich gar nichts vor mir hören und sehn lasse, und bestellte mir herzliche Grüße von seiner Tochter Hannchen, welche auf vielleicht einige Jahre zu einer Tante gereis't war. Das gute Kind hing an mir mit schwesterlicher Innigkeit. "Aber mein Himmel, was fehlt Ihnen?" fragte mich Maiberg, und zog mich beim Arme in sein Arbeitszimmer, "sagen Sie, junger Freund, was ist Ihnen widerfahren? Ihr Prozeß steht trefflich, Sorgen von dieser Seite können nicht vorhanden sein, und doch sagt Ihre Miene, Ihre Leichenblässe, daß hier etwas vorgefallen sein muß?" --
Das ungluͤckliche Blatt flog in meiner Hand; ich ſank erſtarrt nieder, und waͤhnte mich im Arme irgend eines ſchrecklichen Traums. Aber das Erwachen zum wirklichen Leben erinnerte mich an die furchtbare Wahrheit deſſen, was ſich begeben: ich hatte ſie verloren! — Antonie mogte von meinem letzten Schritte gehoͤrt haben, ſie verweigerte mir nicht mehr, mich zu ſehn, und geſtand mir unter heißen Thraͤnen, daß Marie fort ſei, niemand wiſſe wohin. Ich war wie vernichtet, keines Entſchluſſes faͤhig, und ſchwankte umher, wie ein Schatten. Ein dringender Brief von Maiberg lud mich zu ihm ein; er machte mir nebſt ſeiner Familie lebhafte Vorwuͤrfe, wes¬ halb ich gar nichts vor mir hoͤren und ſehn laſſe, und beſtellte mir herzliche Gruͤße von ſeiner Tochter Hannchen, welche auf vielleicht einige Jahre zu einer Tante gereiſ't war. Das gute Kind hing an mir mit ſchweſterlicher Innigkeit. „Aber mein Himmel, was fehlt Ihnen?“ fragte mich Maiberg, und zog mich beim Arme in ſein Arbeitszimmer, „ſagen Sie, junger Freund, was iſt Ihnen widerfahren? Ihr Prozeß ſteht trefflich, Sorgen von dieſer Seite koͤnnen nicht vorhanden ſein, und doch ſagt Ihre Miene, Ihre Leichenblaͤſſe, daß hier etwas vorgefallen ſein muß?“ —
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Das ungluͤckliche Blatt flog in meiner Hand;
ich ſank erſtarrt nieder, und waͤhnte mich im
Arme irgend eines ſchrecklichen Traums. Aber
das Erwachen zum wirklichen Leben erinnerte
mich an die furchtbare Wahrheit deſſen, was ſich
begeben: ich hatte ſie verloren! — Antonie mogte
von meinem letzten Schritte gehoͤrt haben, ſie
verweigerte mir nicht mehr, mich zu ſehn, und
geſtand mir unter heißen Thraͤnen, daß Marie
fort ſei, niemand wiſſe wohin. Ich war wie
vernichtet, keines Entſchluſſes faͤhig, und ſchwankte
umher, wie ein Schatten. Ein dringender Brief
von Maiberg lud mich zu ihm ein; er machte
mir nebſt ſeiner Familie lebhafte Vorwuͤrfe, wes¬
halb ich gar nichts vor mir hoͤren und ſehn laſſe,
und beſtellte mir herzliche Gruͤße von ſeiner Tochter
Hannchen, welche auf vielleicht einige Jahre zu
einer Tante gereiſ't war. Das gute Kind hing
an mir mit ſchweſterlicher Innigkeit. „Aber mein
Himmel, was fehlt Ihnen?“ fragte mich Maiberg,
und zog mich beim Arme in ſein Arbeitszimmer,
„ſagen Sie, junger Freund, was iſt Ihnen
widerfahren? Ihr Prozeß ſteht trefflich, Sorgen
von dieſer Seite koͤnnen nicht vorhanden ſein,
und doch ſagt Ihre Miene, Ihre Leichenblaͤſſe,
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Clauren, Heinrich: Liebe und Irrthum. Nordhausen, 1827, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clauren_liebe_1827/159>, abgerufen am 18.12.2024.
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