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Chladni, Ernst Florens Friedrich: Die Akustik. Leipzig, 1802.

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Einförmigkeit ermüden, man findet also auch an weniger einfachen, oder an dissonirenden
Verhältnissen Gefallen, wenn sie auf etwas einfacheres (nähmlich auf die zum Grunde lie-
gende Tonleiter, und auf die vorher und nachher zu hörenden Töne) Beziehung haben, und
zu einem einfachern Verhältnisse übergehen. Jn der strengern Art der Composition ist auch
dieses noch nicht hinlänglich, sondern es wird erfordert, daß eine Dissonanz auch vorbereitet,
d. i. erst als Consonanz vorhanden gewesen sey, und durch das Eintreten eines neuen Tones
im Basse, oder in einer andern Stimme zur Dissonanz werde, und sodann erst aufgelöset
werde, d. i. in ein gegen den neueingetretenen Ton consonirendes Verhältniß nur um eine
Stufe fortschreite.

Daß die consonirenden Verhältnisse, welche in den Zahlen 1 bis 6 und deren Ver-
doppelungen enthalten sind, für sich dem Gehöre gefallen, ist wohl als allgemein anzunehmen,
hingegen in Ansehung des mehreren oder mindern Wohlgefallens an weniger einfachen Ver-
hältnissen, wie auch an mehrstimmigen Compositionen, wo jede Stimme ihren eigenen Gang
hat, kommt es darauf an, ob der Hörende die dazu erforderliche Receptivität hat, welche ihm
entweder von der Natur verliehen, oder durch Anhören mehrerer nicht gar zu einfacher Ton-
stücke, und durch musikalisches Studium erworben seyn kann. So wird z. B. der Kenner
durch manches fugirte Chor (etwa von Händel oder von Fasch) entzückt werden, welches auf
manchen Andern, der nicht im Stande ist, den Gang der verschiedenen Stimmen, und deren
Uebereinstimmung zu einem harmonischen Ganzen zu fassen, entweder gar keine, oder vielmehr
eine unangenehme Würkung thun wird.

1. Anm. Die von L. Euler in seinem tentam. nov. theor. Mus. angegebenen Grade der An-
nehmlichkeit der Tonverhältnisse werden meistens nicht von der Erfahrung bestatigt.
2. Anm. Ueber das Wohlgefallen an Consonanzen und Dissonanzen sagt des Cartes sehr gut in
epist. 111: inter objecta sensus illud non animo gratissimum est, qnod facile sensu perci-
pitur, neque etiam, quod difficillime, sed quod non tam facile, ut naturale desidertum,
quo sensus feruntur in objecta, plane non impleat, neque etiam tam difficulter, ut sensus
fatiget.
245.

Ganz kleine Abweichungen von der Genauigkeit der Tonverhältnisse
empfindet das Gehör nicht, und man glaubt allemahl bey Anhörung eines Verhältnisses,
welches von einem einfachen nur sehr wenig verschieden ist, das einfachere Verhältniß zu horen,
worüber schon in §. 38, in der 2ten Anmerkung zu §. 40, wie auch in §. 26. und der dazu

Einfoͤrmigkeit ermuͤden, man findet alſo auch an weniger einfachen, oder an diſſonirenden
Verhaͤltniſſen Gefallen, wenn ſie auf etwas einfacheres (naͤhmlich auf die zum Grunde lie-
gende Tonleiter, und auf die vorher und nachher zu hoͤrenden Toͤne) Beziehung haben, und
zu einem einfachern Verhaͤltniſſe uͤbergehen. Jn der ſtrengern Art der Compoſition iſt auch
dieſes noch nicht hinlaͤnglich, ſondern es wird erfordert, daß eine Diſſonanz auch vorbereitet,
d. i. erſt als Conſonanz vorhanden geweſen ſey, und durch das Eintreten eines neuen Tones
im Baſſe, oder in einer andern Stimme zur Diſſonanz werde, und ſodann erſt aufgeloͤſet
werde, d. i. in ein gegen den neueingetretenen Ton conſonirendes Verhaͤltniß nur um eine
Stufe fortſchreite.

Daß die conſonirenden Verhaͤltniſſe, welche in den Zahlen 1 bis 6 und deren Ver-
doppelungen enthalten ſind, fuͤr ſich dem Gehoͤre gefallen, iſt wohl als allgemein anzunehmen,
hingegen in Anſehung des mehreren oder mindern Wohlgefallens an weniger einfachen Ver-
haͤltniſſen, wie auch an mehrſtimmigen Compoſitionen, wo jede Stimme ihren eigenen Gang
hat, kommt es darauf an, ob der Hoͤrende die dazu erforderliche Receptivitaͤt hat, welche ihm
entweder von der Natur verliehen, oder durch Anhoͤren mehrerer nicht gar zu einfacher Ton-
ſtuͤcke, und durch muſikaliſches Studium erworben ſeyn kann. So wird z. B. der Kenner
durch manches fugirte Chor (etwa von Haͤndel oder von Faſch) entzuͤckt werden, welches auf
manchen Andern, der nicht im Stande iſt, den Gang der verſchiedenen Stimmen, und deren
Uebereinſtimmung zu einem harmoniſchen Ganzen zu faſſen, entweder gar keine, oder vielmehr
eine unangenehme Wuͤrkung thun wird.

1. Anm. Die von L. Euler in ſeinem tentam. nov. theor. Mus. angegebenen Grade der An-
nehmlichkeit der Tonverhaͤltniſſe werden meiſtens nicht von der Erfahrung beſtatigt.
2. Anm. Ueber das Wohlgefallen an Conſonanzen und Diſſonanzen ſagt des Cartes ſehr gut in
epist. 111: inter objecta sensus illud non animo gratissimum est, qnod facile sensu perci-
pitur, neque etiam, quod difficillime, sed quod non tam facile, ut naturale desidertum,
quo sensus feruntur in objecta, plane non impleat, neque etiam tam difficulter, ut sensus
fatiget.
245.

Ganz kleine Abweichungen von der Genauigkeit der Tonverhaͤltniſſe
empfindet das Gehoͤr nicht, und man glaubt allemahl bey Anhoͤrung eines Verhaͤltniſſes,
welches von einem einfachen nur ſehr wenig verſchieden iſt, das einfachere Verhaͤltniß zu horen,
woruͤber ſchon in §. 38, in der 2ten Anmerkung zu §. 40, wie auch in §. 26. und der dazu

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[293/0327] Einfoͤrmigkeit ermuͤden, man findet alſo auch an weniger einfachen, oder an diſſonirenden Verhaͤltniſſen Gefallen, wenn ſie auf etwas einfacheres (naͤhmlich auf die zum Grunde lie- gende Tonleiter, und auf die vorher und nachher zu hoͤrenden Toͤne) Beziehung haben, und zu einem einfachern Verhaͤltniſſe uͤbergehen. Jn der ſtrengern Art der Compoſition iſt auch dieſes noch nicht hinlaͤnglich, ſondern es wird erfordert, daß eine Diſſonanz auch vorbereitet, d. i. erſt als Conſonanz vorhanden geweſen ſey, und durch das Eintreten eines neuen Tones im Baſſe, oder in einer andern Stimme zur Diſſonanz werde, und ſodann erſt aufgeloͤſet werde, d. i. in ein gegen den neueingetretenen Ton conſonirendes Verhaͤltniß nur um eine Stufe fortſchreite. Daß die conſonirenden Verhaͤltniſſe, welche in den Zahlen 1 bis 6 und deren Ver- doppelungen enthalten ſind, fuͤr ſich dem Gehoͤre gefallen, iſt wohl als allgemein anzunehmen, hingegen in Anſehung des mehreren oder mindern Wohlgefallens an weniger einfachen Ver- haͤltniſſen, wie auch an mehrſtimmigen Compoſitionen, wo jede Stimme ihren eigenen Gang hat, kommt es darauf an, ob der Hoͤrende die dazu erforderliche Receptivitaͤt hat, welche ihm entweder von der Natur verliehen, oder durch Anhoͤren mehrerer nicht gar zu einfacher Ton- ſtuͤcke, und durch muſikaliſches Studium erworben ſeyn kann. So wird z. B. der Kenner durch manches fugirte Chor (etwa von Haͤndel oder von Faſch) entzuͤckt werden, welches auf manchen Andern, der nicht im Stande iſt, den Gang der verſchiedenen Stimmen, und deren Uebereinſtimmung zu einem harmoniſchen Ganzen zu faſſen, entweder gar keine, oder vielmehr eine unangenehme Wuͤrkung thun wird. 1. Anm. Die von L. Euler in ſeinem tentam. nov. theor. Mus. angegebenen Grade der An- nehmlichkeit der Tonverhaͤltniſſe werden meiſtens nicht von der Erfahrung beſtatigt. 2. Anm. Ueber das Wohlgefallen an Conſonanzen und Diſſonanzen ſagt des Cartes ſehr gut in epist. 111: inter objecta sensus illud non animo gratissimum est, qnod facile sensu perci- pitur, neque etiam, quod difficillime, sed quod non tam facile, ut naturale desidertum, quo sensus feruntur in objecta, plane non impleat, neque etiam tam difficulter, ut sensus fatiget. 245. Ganz kleine Abweichungen von der Genauigkeit der Tonverhaͤltniſſe empfindet das Gehoͤr nicht, und man glaubt allemahl bey Anhoͤrung eines Verhaͤltniſſes, welches von einem einfachen nur ſehr wenig verſchieden iſt, das einfachere Verhaͤltniß zu horen, woruͤber ſchon in §. 38, in der 2ten Anmerkung zu §. 40, wie auch in §. 26. und der dazu

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Zitationshilfe: Chladni, Ernst Florens Friedrich: Die Akustik. Leipzig, 1802, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_akustik_1802/327>, abgerufen am 24.11.2024.