Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitestraße, die ich zunächst durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh' ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämmtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu recensiren und mit Koth zu bewerfen anfing: Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen. Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen. Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichthum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden! Ich war noch sehr verstört, als der Wagen vor meinem alten Wirthshause hielt; ich erschrak über die Vorstellung, nur noch jenes schlechte Dachzimmer zu betreten. Ich ließ mir meine Sachen herabholen, em- sorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitestraße, die ich zunächst durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh' ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämmtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu recensiren und mit Koth zu bewerfen anfing: Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen. Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen. Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichthum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden! Ich war noch sehr verstört, als der Wagen vor meinem alten Wirthshause hielt; ich erschrak über die Vorstellung, nur noch jenes schlechte Dachzimmer zu betreten. Ich ließ mir meine Sachen herabholen, em- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0022"/> sorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitestraße, die ich zunächst durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh' ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämmtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu recensiren und mit Koth zu bewerfen anfing: Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen. Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen.</p><lb/> <p>Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichthum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden!</p><lb/> <p>Ich war noch sehr verstört, als der Wagen vor meinem alten Wirthshause hielt; ich erschrak über die Vorstellung, nur noch jenes schlechte Dachzimmer zu betreten. Ich ließ mir meine Sachen herabholen, em-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
sorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitestraße, die ich zunächst durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh' ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämmtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu recensiren und mit Koth zu bewerfen anfing: Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen. Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen.
Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; und wie ich früher den Reichthum meinem Gewissen aufgeopfert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden!
Ich war noch sehr verstört, als der Wagen vor meinem alten Wirthshause hielt; ich erschrak über die Vorstellung, nur noch jenes schlechte Dachzimmer zu betreten. Ich ließ mir meine Sachen herabholen, em-
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Zitationshilfe: | Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1910/22>, abgerufen am 16.02.2025. |