Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Kunst. der Natur malen, niemals sich auf das Gedächtnis verlassen sollen (76);auch wenn sie nicht an der Staffelei stehen, auf Reisen und beim Spazierengehen, immer und unaufhörlich ist es Pflicht der Künstler, die Natur zu studieren; selbst an Flecken in Mauern, an der Asche eines erloschenen Feuers, am Schlamm und Schmutz sollen sie nicht achtlos vorübergehen (66); so soll ihr Auge ein "Spiegel" werden, eine "zweite Natur" (58a). Albrecht Dürer, Leonardo's gleichgrosser Zeitgenosse, erzählte dem Melanchthon, wie er in seiner Jugend die Ge- mälde hauptsächlich als Gebilde der Phantasie bewundert und auch seine eigenen nach dem Grade ihrer Mannigfaltigkeit geschätzt habe; "als älterer Mann habe er aber begonnen, die Natur zu beobachten und deren ursprüngliches Antlitz nachzubilden und habe erkannt, dass diese Einfachheit der Kunst höchste Zierde sei."1) Wie peinlich genau Dürer es mit dieser Naturbeobachtung nahm, ist bekannt; wer es nicht weiss, sehe sich in der Albertina die Aquarellstudie eines jungen Hasen (Nr. 3073) an, sowie jenes unvergleichliche Meisterstück der Kleinmalerei, den Flügel einer Blaurake (Nr. 4840).2) Wie liebevoll Dürer die Pflanzen- welt studierte, ersieht man aus dem grossen Rasen und dem kleinen Rasen in derselben Sammlung. Soll ich Rembrandt noch nennen, damit man einsehen lerne, dass alle Grössten diesen selben Weg ge- wiesen haben? zeigen, wie er den Naturalismus, d. h. die Naturwahr- heit, sogar in der Komposition freierfundener bewegter Bilder so weit getrieben hat, dass bis heute nur Wenige die Kraft und den Mut besassen, ihm nachzuwandeln? Auch hier will ich einen Fachmann anführen; vom barmherzigen Samariter sagt Seidlitz: "Da ist nichts von pathetischem, an den Beschauer sich wendenden Heroentum zu gewahren; die Teilnehmer der Handlung sind ganz mit sich beschäftigt, ganz bei der Sache. In Haltung, Miene und Geberde ist jeder von ihnen durchaus von dem erfüllt, was ihn innerlich bewegt."3) Das bedeutet, wie man sieht, einen Höhepunkt des Naturalismus: Seelen- wahrheit an Stelle des äusserlich formalen Aufbaues nach angeblichen Gesetzen; kein Italiener hat je diesen Gipfel erstiegen. Es giebt nämlich wirklich "ewige Gesetze" auch ausserhalb der ästhetischen Handbücher; 1) Citiert nach Janitschek: Geschichte der deutschen Malerei, 1890, S. 349. 2) Dies ist der offizielle Katalogstitel; doch ist der betreffende Vogel, glaube ich, besser bekannt unter der Bezeichnung Mandelkrähe. 3) Rembrandt's Radierungen, 1894, S. 31. Siehe auch Goethe's kleinen Aufsatz
über dasselbe Bild, Rembrandt der Denker, (Bd. 44 der Ausgabe letzter Hand). Kunst. der Natur malen, niemals sich auf das Gedächtnis verlassen sollen (76);auch wenn sie nicht an der Staffelei stehen, auf Reisen und beim Spazierengehen, immer und unaufhörlich ist es Pflicht der Künstler, die Natur zu studieren; selbst an Flecken in Mauern, an der Asche eines erloschenen Feuers, am Schlamm und Schmutz sollen sie nicht achtlos vorübergehen (66); so soll ihr Auge ein »Spiegel« werden, eine »zweite Natur« (58a). Albrecht Dürer, Leonardo’s gleichgrosser Zeitgenosse, erzählte dem Melanchthon, wie er in seiner Jugend die Ge- mälde hauptsächlich als Gebilde der Phantasie bewundert und auch seine eigenen nach dem Grade ihrer Mannigfaltigkeit geschätzt habe; »als älterer Mann habe er aber begonnen, die Natur zu beobachten und deren ursprüngliches Antlitz nachzubilden und habe erkannt, dass diese Einfachheit der Kunst höchste Zierde sei.«1) Wie peinlich genau Dürer es mit dieser Naturbeobachtung nahm, ist bekannt; wer es nicht weiss, sehe sich in der Albertina die Aquarellstudie eines jungen Hasen (Nr. 3073) an, sowie jenes unvergleichliche Meisterstück der Kleinmalerei, den Flügel einer Blaurake (Nr. 4840).2) Wie liebevoll Dürer die Pflanzen- welt studierte, ersieht man aus dem grossen Rasen und dem kleinen Rasen in derselben Sammlung. Soll ich Rembrandt noch nennen, damit man einsehen lerne, dass alle Grössten diesen selben Weg ge- wiesen haben? zeigen, wie er den Naturalismus, d. h. die Naturwahr- heit, sogar in der Komposition freierfundener bewegter Bilder so weit getrieben hat, dass bis heute nur Wenige die Kraft und den Mut besassen, ihm nachzuwandeln? Auch hier will ich einen Fachmann anführen; vom barmherzigen Samariter sagt Seidlitz: »Da ist nichts von pathetischem, an den Beschauer sich wendenden Heroentum zu gewahren; die Teilnehmer der Handlung sind ganz mit sich beschäftigt, ganz bei der Sache. In Haltung, Miene und Geberde ist jeder von ihnen durchaus von dem erfüllt, was ihn innerlich bewegt.«3) Das bedeutet, wie man sieht, einen Höhepunkt des Naturalismus: Seelen- wahrheit an Stelle des äusserlich formalen Aufbaues nach angeblichen Gesetzen; kein Italiener hat je diesen Gipfel erstiegen. Es giebt nämlich wirklich »ewige Gesetze« auch ausserhalb der ästhetischen Handbücher; 1) Citiert nach Janitschek: Geschichte der deutschen Malerei, 1890, S. 349. 2) Dies ist der offizielle Katalogstitel; doch ist der betreffende Vogel, glaube ich, besser bekannt unter der Bezeichnung Mandelkrähe. 3) Rembrandt’s Radierungen, 1894, S. 31. Siehe auch Goethe’s kleinen Aufsatz
über dasselbe Bild, Rembrandt der Denker, (Bd. 44 der Ausgabe letzter Hand). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0472" n="993"/><fw place="top" type="header">Kunst.</fw><lb/> der Natur malen, niemals sich auf das Gedächtnis verlassen sollen (76);<lb/> auch wenn sie nicht an der Staffelei stehen, auf Reisen und beim<lb/> Spazierengehen, immer und unaufhörlich ist es Pflicht der Künstler,<lb/> die Natur zu studieren; selbst an Flecken in Mauern, an der Asche<lb/> eines erloschenen Feuers, am Schlamm und Schmutz sollen sie nicht<lb/> achtlos vorübergehen (66); so soll ihr Auge ein »Spiegel« werden,<lb/> eine »zweite Natur« (58a). Albrecht Dürer, Leonardo’s gleichgrosser<lb/> Zeitgenosse, erzählte dem Melanchthon, wie er in seiner Jugend die Ge-<lb/> mälde hauptsächlich als Gebilde der Phantasie bewundert und auch seine<lb/> eigenen nach dem Grade ihrer Mannigfaltigkeit geschätzt habe; »als<lb/> älterer Mann habe er aber begonnen, die Natur zu beobachten und <hi rendition="#g">deren<lb/> ursprüngliches Antlitz</hi> nachzubilden und habe erkannt, dass diese<lb/> Einfachheit der Kunst höchste Zierde sei.«<note place="foot" n="1)">Citiert nach Janitschek: <hi rendition="#i">Geschichte der deutschen Malerei,</hi> 1890, S. 349.</note> Wie peinlich genau Dürer<lb/> es mit dieser Naturbeobachtung nahm, ist bekannt; wer es nicht weiss,<lb/> sehe sich in der Albertina die Aquarellstudie eines <hi rendition="#i">jungen Hasen</hi> (Nr. 3073)<lb/> an, sowie jenes unvergleichliche Meisterstück der Kleinmalerei, den<lb/><hi rendition="#i">Flügel einer Blaurake</hi> (Nr. 4840).<note place="foot" n="2)">Dies ist der offizielle Katalogstitel; doch ist der betreffende Vogel, glaube<lb/> ich, besser bekannt unter der Bezeichnung Mandelkrähe.</note> Wie liebevoll Dürer die Pflanzen-<lb/> welt studierte, ersieht man aus dem <hi rendition="#i">grossen Rasen</hi> und dem <hi rendition="#i">kleinen<lb/> Rasen</hi> in derselben Sammlung. Soll ich Rembrandt noch nennen,<lb/> damit man einsehen lerne, dass alle Grössten diesen selben Weg ge-<lb/> wiesen haben? zeigen, wie er den Naturalismus, d. h. die Naturwahr-<lb/> heit, sogar in der Komposition freierfundener bewegter Bilder so weit<lb/> getrieben hat, dass bis heute nur Wenige die Kraft und den Mut<lb/> besassen, ihm nachzuwandeln? Auch hier will ich einen Fachmann<lb/> anführen; vom <hi rendition="#i">barmherzigen Samariter</hi> sagt Seidlitz: »Da ist nichts<lb/> von pathetischem, an den Beschauer sich wendenden Heroentum zu<lb/> gewahren; die Teilnehmer der Handlung sind ganz mit sich beschäftigt,<lb/> ganz bei der Sache. In Haltung, Miene und Geberde ist jeder von<lb/> ihnen durchaus von dem erfüllt, was ihn innerlich bewegt.«<note place="foot" n="3)"><hi rendition="#i">Rembrandt’s Radierungen,</hi> 1894, S. 31. Siehe auch Goethe’s kleinen Aufsatz<lb/> über dasselbe Bild, <hi rendition="#i">Rembrandt der Denker,</hi> (Bd. 44 der Ausgabe letzter Hand).</note> Das<lb/> bedeutet, wie man sieht, einen Höhepunkt des Naturalismus: Seelen-<lb/> wahrheit an Stelle des äusserlich formalen Aufbaues nach angeblichen<lb/> Gesetzen; kein Italiener hat je diesen Gipfel erstiegen. Es giebt nämlich<lb/> wirklich »ewige Gesetze« auch ausserhalb der ästhetischen Handbücher;<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [993/0472]
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der Natur malen, niemals sich auf das Gedächtnis verlassen sollen (76);
auch wenn sie nicht an der Staffelei stehen, auf Reisen und beim
Spazierengehen, immer und unaufhörlich ist es Pflicht der Künstler,
die Natur zu studieren; selbst an Flecken in Mauern, an der Asche
eines erloschenen Feuers, am Schlamm und Schmutz sollen sie nicht
achtlos vorübergehen (66); so soll ihr Auge ein »Spiegel« werden,
eine »zweite Natur« (58a). Albrecht Dürer, Leonardo’s gleichgrosser
Zeitgenosse, erzählte dem Melanchthon, wie er in seiner Jugend die Ge-
mälde hauptsächlich als Gebilde der Phantasie bewundert und auch seine
eigenen nach dem Grade ihrer Mannigfaltigkeit geschätzt habe; »als
älterer Mann habe er aber begonnen, die Natur zu beobachten und deren
ursprüngliches Antlitz nachzubilden und habe erkannt, dass diese
Einfachheit der Kunst höchste Zierde sei.« 1) Wie peinlich genau Dürer
es mit dieser Naturbeobachtung nahm, ist bekannt; wer es nicht weiss,
sehe sich in der Albertina die Aquarellstudie eines jungen Hasen (Nr. 3073)
an, sowie jenes unvergleichliche Meisterstück der Kleinmalerei, den
Flügel einer Blaurake (Nr. 4840). 2) Wie liebevoll Dürer die Pflanzen-
welt studierte, ersieht man aus dem grossen Rasen und dem kleinen
Rasen in derselben Sammlung. Soll ich Rembrandt noch nennen,
damit man einsehen lerne, dass alle Grössten diesen selben Weg ge-
wiesen haben? zeigen, wie er den Naturalismus, d. h. die Naturwahr-
heit, sogar in der Komposition freierfundener bewegter Bilder so weit
getrieben hat, dass bis heute nur Wenige die Kraft und den Mut
besassen, ihm nachzuwandeln? Auch hier will ich einen Fachmann
anführen; vom barmherzigen Samariter sagt Seidlitz: »Da ist nichts
von pathetischem, an den Beschauer sich wendenden Heroentum zu
gewahren; die Teilnehmer der Handlung sind ganz mit sich beschäftigt,
ganz bei der Sache. In Haltung, Miene und Geberde ist jeder von
ihnen durchaus von dem erfüllt, was ihn innerlich bewegt.« 3) Das
bedeutet, wie man sieht, einen Höhepunkt des Naturalismus: Seelen-
wahrheit an Stelle des äusserlich formalen Aufbaues nach angeblichen
Gesetzen; kein Italiener hat je diesen Gipfel erstiegen. Es giebt nämlich
wirklich »ewige Gesetze« auch ausserhalb der ästhetischen Handbücher;
1) Citiert nach Janitschek: Geschichte der deutschen Malerei, 1890, S. 349.
2) Dies ist der offizielle Katalogstitel; doch ist der betreffende Vogel, glaube
ich, besser bekannt unter der Bezeichnung Mandelkrähe.
3) Rembrandt’s Radierungen, 1894, S. 31. Siehe auch Goethe’s kleinen Aufsatz
über dasselbe Bild, Rembrandt der Denker, (Bd. 44 der Ausgabe letzter Hand).
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