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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
S. 956 bemerkte) gleich zur Natur, sobald der Germane den orien-
talisch-römischen Hieratismus abgeschüttelt hat. Nichts ist rührender,
als wenn man die begabten Nordländer -- in einer erlogenen Civili-
sation grossgezogen, von den spärlichen Resten einer grossen, aber
fremden Kunst umgeben und angeregt -- nunmehr liebevoll und müh-
sam, dem Zuge ihres Herzens folgend, der Natur nachgehen sieht:
nichts ist ihnen zu gross, nichts zu gering; vom Menschenantlitz bis
zum Schneckengehäuse, Alles zeichnen sie getreulich auf, und wahrlich!
trotz aller technischen Gewissenhaftigkeit verstehen sie es, "das Un-
aussprechliche zu vermitteln".1) Bald war jener grosse Mann da, dessen
Auge so tief in die Natur eindrang und der stets das Vorbild aller
bildenden Künstler hätte bleiben sollen, Leonardo. "Kein Maler", sagt
ein heutiger Kunsthistoriker, "hatte sich so vollständig von der antiken
Überlieferung frei gemacht -- -- -- ein einziges Mal erwähnt er in
seinen vielen Schriften die Graeci e Romani und zwar nur in Bezug
auf bestimmte Drapierungen."2) In seinem berühmten Buch von der
Malerei
schärft Leonardo den Malern beständig ein, dass sie Alles nach

Bamberg an: hier ist Geist von Donatello's Geist. Ein Gelehrter, der diese Skulpturen
neuerdings eingehend studiert hat, sagt, man sehe wie der Künstler "der Natur
mit dem Spürsinn des Entdeckers nachgehe".
Derselbe Kunsthistoriker
sucht dann herauszufinden, in welcher Schule der Bamberger Bildhauer eine so
erstaunliche Kraft der individuellen Charakteristik gelernt und geübt habe, und
weist überzeugend nach, dass diese bedeutenden Leistungen deutscher Künstler aus
den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts an eine lange Reihe ähnlicher Versuche
ihrer in politischen und gesellschaftlichen Beziehungen glücklicheren, freieren,
reicheren germanischen Brüder im Westen anknüpfen. Diese gestaltende Sehn-
sucht, der Natur auf die Spur zu kommen, hatte schon längst einen künstlerischen
Mittelpunkt im fränkischen und normannischen Norden (Paris, Reims u. s. w.), einen
anderen in jenem unausrottbaren Centrum freier häretischer gotischer Kraft, in
Toulouse, gefunden (vergl. Arthur Weese: Die Bamberger Domskulpturen, 1897,
S. 33, 59 fg.). Wie sehr ein gleiches von der Malerei gilt, liegt für den ungelehrtesten
Laien auf der Hand. Die Gebrüder van Eyck, hundert Jahre vor Dürer geboren,
sind schon Meister des verehrungswürdigen, echten Naturalismus, und sie selber sind
schon von ihrem Vater in dieser Schule erzogen; ohne den verhängnisvollen Ein-
fluss Italiens, der immer wieder und immer wieder, wie jene periodischen Wellen
des Stillen Oceans, unseren ganzen Erwerb an Eigenart wegschwemmte, wäre die
Entwickelung unserer echt germanischen Malerei eine ganz andere gewesen.
1) Man weiss (siehe S. 790), wie unsere gesamte Naturwissenschaft auf der-
selben Grundlage der treuen, unermüdlichen Beobachtung jeder Einzelheit beruht,
und kann daraus entnehmen, wie eng verschwistert unsere Wissenschaft und unsere
Kunst sind, beide die Erzeugnisse desselben individuellen Geistes.
2) E. Muntz: Raphael, 1881, p. 138.

Die Entstehung einer neuen Welt.
S. 956 bemerkte) gleich zur Natur, sobald der Germane den orien-
talisch-römischen Hieratismus abgeschüttelt hat. Nichts ist rührender,
als wenn man die begabten Nordländer — in einer erlogenen Civili-
sation grossgezogen, von den spärlichen Resten einer grossen, aber
fremden Kunst umgeben und angeregt — nunmehr liebevoll und müh-
sam, dem Zuge ihres Herzens folgend, der Natur nachgehen sieht:
nichts ist ihnen zu gross, nichts zu gering; vom Menschenantlitz bis
zum Schneckengehäuse, Alles zeichnen sie getreulich auf, und wahrlich!
trotz aller technischen Gewissenhaftigkeit verstehen sie es, »das Un-
aussprechliche zu vermitteln«.1) Bald war jener grosse Mann da, dessen
Auge so tief in die Natur eindrang und der stets das Vorbild aller
bildenden Künstler hätte bleiben sollen, Leonardo. »Kein Maler«, sagt
ein heutiger Kunsthistoriker, »hatte sich so vollständig von der antiken
Überlieferung frei gemacht — — — ein einziges Mal erwähnt er in
seinen vielen Schriften die Graeci e Romani und zwar nur in Bezug
auf bestimmte Drapierungen.«2) In seinem berühmten Buch von der
Malerei
schärft Leonardo den Malern beständig ein, dass sie Alles nach

Bamberg an: hier ist Geist von Donatello’s Geist. Ein Gelehrter, der diese Skulpturen
neuerdings eingehend studiert hat, sagt, man sehe wie der Künstler »der Natur
mit dem Spürsinn des Entdeckers nachgehe«.
Derselbe Kunsthistoriker
sucht dann herauszufinden, in welcher Schule der Bamberger Bildhauer eine so
erstaunliche Kraft der individuellen Charakteristik gelernt und geübt habe, und
weist überzeugend nach, dass diese bedeutenden Leistungen deutscher Künstler aus
den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts an eine lange Reihe ähnlicher Versuche
ihrer in politischen und gesellschaftlichen Beziehungen glücklicheren, freieren,
reicheren germanischen Brüder im Westen anknüpfen. Diese gestaltende Sehn-
sucht, der Natur auf die Spur zu kommen, hatte schon längst einen künstlerischen
Mittelpunkt im fränkischen und normannischen Norden (Paris, Reims u. s. w.), einen
anderen in jenem unausrottbaren Centrum freier häretischer gotischer Kraft, in
Toulouse, gefunden (vergl. Arthur Weese: Die Bamberger Domskulpturen, 1897,
S. 33, 59 fg.). Wie sehr ein gleiches von der Malerei gilt, liegt für den ungelehrtesten
Laien auf der Hand. Die Gebrüder van Eyck, hundert Jahre vor Dürer geboren,
sind schon Meister des verehrungswürdigen, echten Naturalismus, und sie selber sind
schon von ihrem Vater in dieser Schule erzogen; ohne den verhängnisvollen Ein-
fluss Italiens, der immer wieder und immer wieder, wie jene periodischen Wellen
des Stillen Oceans, unseren ganzen Erwerb an Eigenart wegschwemmte, wäre die
Entwickelung unserer echt germanischen Malerei eine ganz andere gewesen.
1) Man weiss (siehe S. 790), wie unsere gesamte Naturwissenschaft auf der-
selben Grundlage der treuen, unermüdlichen Beobachtung jeder Einzelheit beruht,
und kann daraus entnehmen, wie eng verschwistert unsere Wissenschaft und unsere
Kunst sind, beide die Erzeugnisse desselben individuellen Geistes.
2) E. Muntz: Raphaël, 1881, p. 138.
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[992/0471] Die Entstehung einer neuen Welt. S. 956 bemerkte) gleich zur Natur, sobald der Germane den orien- talisch-römischen Hieratismus abgeschüttelt hat. Nichts ist rührender, als wenn man die begabten Nordländer — in einer erlogenen Civili- sation grossgezogen, von den spärlichen Resten einer grossen, aber fremden Kunst umgeben und angeregt — nunmehr liebevoll und müh- sam, dem Zuge ihres Herzens folgend, der Natur nachgehen sieht: nichts ist ihnen zu gross, nichts zu gering; vom Menschenantlitz bis zum Schneckengehäuse, Alles zeichnen sie getreulich auf, und wahrlich! trotz aller technischen Gewissenhaftigkeit verstehen sie es, »das Un- aussprechliche zu vermitteln«. 1) Bald war jener grosse Mann da, dessen Auge so tief in die Natur eindrang und der stets das Vorbild aller bildenden Künstler hätte bleiben sollen, Leonardo. »Kein Maler«, sagt ein heutiger Kunsthistoriker, »hatte sich so vollständig von der antiken Überlieferung frei gemacht — — — ein einziges Mal erwähnt er in seinen vielen Schriften die Graeci e Romani und zwar nur in Bezug auf bestimmte Drapierungen.« 2) In seinem berühmten Buch von der Malerei schärft Leonardo den Malern beständig ein, dass sie Alles nach 1) 1) Man weiss (siehe S. 790), wie unsere gesamte Naturwissenschaft auf der- selben Grundlage der treuen, unermüdlichen Beobachtung jeder Einzelheit beruht, und kann daraus entnehmen, wie eng verschwistert unsere Wissenschaft und unsere Kunst sind, beide die Erzeugnisse desselben individuellen Geistes. 2) E. Muntz: Raphaël, 1881, p. 138. 1) Bamberg an: hier ist Geist von Donatello’s Geist. Ein Gelehrter, der diese Skulpturen neuerdings eingehend studiert hat, sagt, man sehe wie der Künstler »der Natur mit dem Spürsinn des Entdeckers nachgehe«. Derselbe Kunsthistoriker sucht dann herauszufinden, in welcher Schule der Bamberger Bildhauer eine so erstaunliche Kraft der individuellen Charakteristik gelernt und geübt habe, und weist überzeugend nach, dass diese bedeutenden Leistungen deutscher Künstler aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts an eine lange Reihe ähnlicher Versuche ihrer in politischen und gesellschaftlichen Beziehungen glücklicheren, freieren, reicheren germanischen Brüder im Westen anknüpfen. Diese gestaltende Sehn- sucht, der Natur auf die Spur zu kommen, hatte schon längst einen künstlerischen Mittelpunkt im fränkischen und normannischen Norden (Paris, Reims u. s. w.), einen anderen in jenem unausrottbaren Centrum freier häretischer gotischer Kraft, in Toulouse, gefunden (vergl. Arthur Weese: Die Bamberger Domskulpturen, 1897, S. 33, 59 fg.). Wie sehr ein gleiches von der Malerei gilt, liegt für den ungelehrtesten Laien auf der Hand. Die Gebrüder van Eyck, hundert Jahre vor Dürer geboren, sind schon Meister des verehrungswürdigen, echten Naturalismus, und sie selber sind schon von ihrem Vater in dieser Schule erzogen; ohne den verhängnisvollen Ein- fluss Italiens, der immer wieder und immer wieder, wie jene periodischen Wellen des Stillen Oceans, unseren ganzen Erwerb an Eigenart wegschwemmte, wäre die Entwickelung unserer echt germanischen Malerei eine ganz andere gewesen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 992. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/471>, abgerufen am 22.11.2024.