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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Musikalische -- ich meine das Musikverwandte und Musikerfüllte --
in seinen Werken auf Schritt und Tritt nachweisen, und zwar nicht
allein die so sehr häufige Anwendung von Musik in seinen Dramen,
mit dem Vermerk "ahnend seltene Gefühle" und mehr dergleichen
versehen, sondern es wäre leicht zu zeigen, dass schon die Konzeption
seiner Bühnenwerke auf Motive, Grundlagen und Ziele deutet, die
zum innerlichsten Gebiete der Musik gehören. Faust ist ganz Musik;
nicht bloss weil, wie Beethoven meinte, die Musik den Worten ent-
fliesst, denn dies ist nur von einzelnen Fragmenten wahr, sondern weil
fast jede einzelne Situation im vollsten Sinne des Wortes "musikalisch"
ersonnen ist, vom Studierzimmer bis zum Chorus mysticus. Je älter
er wurde, desto höher stellte Goethe die Musik. Betreffs der Be-
ziehungen zwischen Wort- und Tonkunst stimmte er mit Lessing und
Herder vollkommen überein und drückte es in seiner unnachahmlichen
Weise aus: "Poesie und Musik bedingen sich wechselweise und be-
freien sich sodann wechselseitig". Bezüglich des ethischen Wertes der
Tonkunst, meint er: "Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik
vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet
werden müsste; sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und ver-
edelt alles, was sie ausdrückt". Darum wollte er die Musik in den
Mittelpunkt aller Erziehung gestellt wissen: "denn von ihr laufen
gleichgebahnte Wege nach allen Seiten".1)

Hier nun, nachdem Goethe uns belehrt hat, von der Musik ausDas
Musikalische.

(und das heisst von tonvermählter Poesie aus) laufen gleichgebahnte
Wege nach allen Seiten, hier sind wir auf einem Gipfelpunkt angelangt,
von wo aus wir einen weiten Ausblick auf das Werden unserer ge-
samten Kunst gewinnen. Denn wir erkannten schon früher, dass die
Poesie die alma mater aller schöpferischen Kunst ist, gleichviel in
welcher Gestaltungsform sie sich kundthut; und nun sehen wir, dass
unsere germanische Poesie eine durchaus eigene, individuelle Ent-
wickelung durchlaufen hat, welche ohne Analogon in der Geschichte
steht. Die unerhört hohe Ausbildung der Musik, d. h. der Kunst des
poetischen Ausdruckes, kann nicht ohne Einfluss auch auf unsere
bildenden Künste geblieben sein. Denn gerade so wie es das Homerische

1) Siehe Wanderjahre, 2. Buch, Kap. 1, 9. -- Weitere Ausführungen über
diesen Gegenstand, sowie namentlich über die organischen Beziehungen zwischen
Dichtkunst und Tonkunst findet man in meinem Buch Richard Wagner, 1896,
S. 20 fg., 187 fg., 200, sowie in meinem Vortrag über die Klassiker der Dicht- und
Tonkunst,
abgedruckt in den "Bayreuther Blättern", Jahrgang 1897, 7--10. Stück.
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Kunst.
Musikalische — ich meine das Musikverwandte und Musikerfüllte —
in seinen Werken auf Schritt und Tritt nachweisen, und zwar nicht
allein die so sehr häufige Anwendung von Musik in seinen Dramen,
mit dem Vermerk »ahnend seltene Gefühle« und mehr dergleichen
versehen, sondern es wäre leicht zu zeigen, dass schon die Konzeption
seiner Bühnenwerke auf Motive, Grundlagen und Ziele deutet, die
zum innerlichsten Gebiete der Musik gehören. Faust ist ganz Musik;
nicht bloss weil, wie Beethoven meinte, die Musik den Worten ent-
fliesst, denn dies ist nur von einzelnen Fragmenten wahr, sondern weil
fast jede einzelne Situation im vollsten Sinne des Wortes »musikalisch«
ersonnen ist, vom Studierzimmer bis zum Chorus mysticus. Je älter
er wurde, desto höher stellte Goethe die Musik. Betreffs der Be-
ziehungen zwischen Wort- und Tonkunst stimmte er mit Lessing und
Herder vollkommen überein und drückte es in seiner unnachahmlichen
Weise aus: »Poesie und Musik bedingen sich wechselweise und be-
freien sich sodann wechselseitig«. Bezüglich des ethischen Wertes der
Tonkunst, meint er: »Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik
vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet
werden müsste; sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und ver-
edelt alles, was sie ausdrückt«. Darum wollte er die Musik in den
Mittelpunkt aller Erziehung gestellt wissen: »denn von ihr laufen
gleichgebahnte Wege nach allen Seiten«.1)

Hier nun, nachdem Goethe uns belehrt hat, von der Musik ausDas
Musikalische.

(und das heisst von tonvermählter Poesie aus) laufen gleichgebahnte
Wege nach allen Seiten, hier sind wir auf einem Gipfelpunkt angelangt,
von wo aus wir einen weiten Ausblick auf das Werden unserer ge-
samten Kunst gewinnen. Denn wir erkannten schon früher, dass die
Poesie die alma mater aller schöpferischen Kunst ist, gleichviel in
welcher Gestaltungsform sie sich kundthut; und nun sehen wir, dass
unsere germanische Poesie eine durchaus eigene, individuelle Ent-
wickelung durchlaufen hat, welche ohne Analogon in der Geschichte
steht. Die unerhört hohe Ausbildung der Musik, d. h. der Kunst des
poetischen Ausdruckes, kann nicht ohne Einfluss auch auf unsere
bildenden Künste geblieben sein. Denn gerade so wie es das Homerische

1) Siehe Wanderjahre, 2. Buch, Kap. 1, 9. — Weitere Ausführungen über
diesen Gegenstand, sowie namentlich über die organischen Beziehungen zwischen
Dichtkunst und Tonkunst findet man in meinem Buch Richard Wagner, 1896,
S. 20 fg., 187 fg., 200, sowie in meinem Vortrag über die Klassiker der Dicht- und
Tonkunst,
abgedruckt in den »Bayreuther Blättern«, Jahrgang 1897, 7—10. Stück.
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[987/0466] Kunst. Musikalische — ich meine das Musikverwandte und Musikerfüllte — in seinen Werken auf Schritt und Tritt nachweisen, und zwar nicht allein die so sehr häufige Anwendung von Musik in seinen Dramen, mit dem Vermerk »ahnend seltene Gefühle« und mehr dergleichen versehen, sondern es wäre leicht zu zeigen, dass schon die Konzeption seiner Bühnenwerke auf Motive, Grundlagen und Ziele deutet, die zum innerlichsten Gebiete der Musik gehören. Faust ist ganz Musik; nicht bloss weil, wie Beethoven meinte, die Musik den Worten ent- fliesst, denn dies ist nur von einzelnen Fragmenten wahr, sondern weil fast jede einzelne Situation im vollsten Sinne des Wortes »musikalisch« ersonnen ist, vom Studierzimmer bis zum Chorus mysticus. Je älter er wurde, desto höher stellte Goethe die Musik. Betreffs der Be- ziehungen zwischen Wort- und Tonkunst stimmte er mit Lessing und Herder vollkommen überein und drückte es in seiner unnachahmlichen Weise aus: »Poesie und Musik bedingen sich wechselweise und be- freien sich sodann wechselseitig«. Bezüglich des ethischen Wertes der Tonkunst, meint er: »Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müsste; sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und ver- edelt alles, was sie ausdrückt«. Darum wollte er die Musik in den Mittelpunkt aller Erziehung gestellt wissen: »denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten«. 1) Hier nun, nachdem Goethe uns belehrt hat, von der Musik aus (und das heisst von tonvermählter Poesie aus) laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten, hier sind wir auf einem Gipfelpunkt angelangt, von wo aus wir einen weiten Ausblick auf das Werden unserer ge- samten Kunst gewinnen. Denn wir erkannten schon früher, dass die Poesie die alma mater aller schöpferischen Kunst ist, gleichviel in welcher Gestaltungsform sie sich kundthut; und nun sehen wir, dass unsere germanische Poesie eine durchaus eigene, individuelle Ent- wickelung durchlaufen hat, welche ohne Analogon in der Geschichte steht. Die unerhört hohe Ausbildung der Musik, d. h. der Kunst des poetischen Ausdruckes, kann nicht ohne Einfluss auch auf unsere bildenden Künste geblieben sein. Denn gerade so wie es das Homerische Das Musikalische. 1) Siehe Wanderjahre, 2. Buch, Kap. 1, 9. — Weitere Ausführungen über diesen Gegenstand, sowie namentlich über die organischen Beziehungen zwischen Dichtkunst und Tonkunst findet man in meinem Buch Richard Wagner, 1896, S. 20 fg., 187 fg., 200, sowie in meinem Vortrag über die Klassiker der Dicht- und Tonkunst, abgedruckt in den »Bayreuther Blättern«, Jahrgang 1897, 7—10. Stück. 63*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 987. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/466>, abgerufen am 16.06.2024.