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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
nie dann ein zu Accenten der wahren Göttersprache"?1)
Es war -- und ist noch jetzt -- dieser Zustand ein geradezu tragischer.
Nicht etwa, als wäre eine "absolute Dichtkunst", welche den Musiker
nur "subintelligiert" (wie Lessing sagt), nicht ebenso berechtigt wie
die absolute Musik, ja, noch viel berechtigter als diese; darum handelt
es sich nicht, sondern es handelt sich darum, die Einsicht zu gewinnen,
wie die uns natürliche musikalische Sehnsucht, wie unser Bedürfnis
nach einem Ausdruck, den nur die Musik in ihrer Gewalt hat, auch
jene dichterischen Werke und jene Dichter durchdrang, die abseits
von der Tonkunst standen. Dort, wo die Tonkunst ihre unver-
gleichlichste Blüte getrieben hatte, nämlich in Deutschland, musste
dies natürlich am tiefsten empfunden werden. Mit welcher Schärfe
Lessing die Lücke in der germanischen Poesie bezeichnet, mit welcher
Tiefe Herder das Missverhältnis empfindet, geht aus den angeführten
Stellen deutlich genug hervor. Noch wertvoller wird aber Manchem
das Zeugnis ihrer grossen schöpferischen Zeitgenossen dünken.
Schiller berichtet von sich: "Eine gewisse musikalische Gemüts-
stimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische
Idee";2) mehrere seiner Werke knüpfen unmittelbar an bestimmte
musikalische Eindrücke an, z. B. die Jungfrau von Orleans an die
Aufführung eines Werkes von Gluck. Das Gefühl, dass "das Drama
zur Musik neige", beschäftigt den edlen Dichter immerwährend. In
seinem Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797 geht er der Sache
tief auf den Grund: "Um von einem Kunstwerk alles auszuschliessen,
was seiner Gattung fremd ist, muss man notwendig alles darin ein-
schliessen können, was der Gattung gebührt. Und eben darin
fehlt es jetzt
(dem tragischen Dichter). .... Das Empfindungs-
vermögen des Zuschauers und Hörers muss einmal ausgefüllt und
in allen Punkten seiner Peripherie berührt werden; der Durch-
messer dieses Vermögens ist das Mass für den Poeten"; und am
Schlusse dieses Briefes setzt er seine Hoffnung auf die Musik und
erwartet von ihr die Ausfüllung dieser im modernen Drama so schmerz-
haft empfundenen Lücke. Die Musik auf der Bühne kannte er ja nur
als Oper, und so erhoffte er von dieser: "dass aus ihr, wie aus den
Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt
sich loswickeln werde". Bei Goethe müsste man vor allem das

1) Früchte aus den sogenannt goldenen Zeiten des 18. Jahrhunderts, 11. Das Drama.
2) Brief an Goethe vom 18. März 1796.

Die Entstehung einer neuen Welt.
nie dann ein zu Accenten der wahren Göttersprache«?1)
Es war — und ist noch jetzt — dieser Zustand ein geradezu tragischer.
Nicht etwa, als wäre eine »absolute Dichtkunst«, welche den Musiker
nur »subintelligiert« (wie Lessing sagt), nicht ebenso berechtigt wie
die absolute Musik, ja, noch viel berechtigter als diese; darum handelt
es sich nicht, sondern es handelt sich darum, die Einsicht zu gewinnen,
wie die uns natürliche musikalische Sehnsucht, wie unser Bedürfnis
nach einem Ausdruck, den nur die Musik in ihrer Gewalt hat, auch
jene dichterischen Werke und jene Dichter durchdrang, die abseits
von der Tonkunst standen. Dort, wo die Tonkunst ihre unver-
gleichlichste Blüte getrieben hatte, nämlich in Deutschland, musste
dies natürlich am tiefsten empfunden werden. Mit welcher Schärfe
Lessing die Lücke in der germanischen Poesie bezeichnet, mit welcher
Tiefe Herder das Missverhältnis empfindet, geht aus den angeführten
Stellen deutlich genug hervor. Noch wertvoller wird aber Manchem
das Zeugnis ihrer grossen schöpferischen Zeitgenossen dünken.
Schiller berichtet von sich: »Eine gewisse musikalische Gemüts-
stimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische
Idee«;2) mehrere seiner Werke knüpfen unmittelbar an bestimmte
musikalische Eindrücke an, z. B. die Jungfrau von Orleans an die
Aufführung eines Werkes von Gluck. Das Gefühl, dass »das Drama
zur Musik neige«, beschäftigt den edlen Dichter immerwährend. In
seinem Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797 geht er der Sache
tief auf den Grund: »Um von einem Kunstwerk alles auszuschliessen,
was seiner Gattung fremd ist, muss man notwendig alles darin ein-
schliessen können, was der Gattung gebührt. Und eben darin
fehlt es jetzt
(dem tragischen Dichter). .... Das Empfindungs-
vermögen des Zuschauers und Hörers muss einmal ausgefüllt und
in allen Punkten seiner Peripherie berührt werden; der Durch-
messer dieses Vermögens ist das Mass für den Poeten«; und am
Schlusse dieses Briefes setzt er seine Hoffnung auf die Musik und
erwartet von ihr die Ausfüllung dieser im modernen Drama so schmerz-
haft empfundenen Lücke. Die Musik auf der Bühne kannte er ja nur
als Oper, und so erhoffte er von dieser: »dass aus ihr, wie aus den
Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt
sich loswickeln werde«. Bei Goethe müsste man vor allem das

1) Früchte aus den sogenannt goldenen Zeiten des 18. Jahrhunderts, 11. Das Drama.
2) Brief an Goethe vom 18. März 1796.
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[986/0465] Die Entstehung einer neuen Welt. nie dann ein zu Accenten der wahren Göttersprache«? 1) Es war — und ist noch jetzt — dieser Zustand ein geradezu tragischer. Nicht etwa, als wäre eine »absolute Dichtkunst«, welche den Musiker nur »subintelligiert« (wie Lessing sagt), nicht ebenso berechtigt wie die absolute Musik, ja, noch viel berechtigter als diese; darum handelt es sich nicht, sondern es handelt sich darum, die Einsicht zu gewinnen, wie die uns natürliche musikalische Sehnsucht, wie unser Bedürfnis nach einem Ausdruck, den nur die Musik in ihrer Gewalt hat, auch jene dichterischen Werke und jene Dichter durchdrang, die abseits von der Tonkunst standen. Dort, wo die Tonkunst ihre unver- gleichlichste Blüte getrieben hatte, nämlich in Deutschland, musste dies natürlich am tiefsten empfunden werden. Mit welcher Schärfe Lessing die Lücke in der germanischen Poesie bezeichnet, mit welcher Tiefe Herder das Missverhältnis empfindet, geht aus den angeführten Stellen deutlich genug hervor. Noch wertvoller wird aber Manchem das Zeugnis ihrer grossen schöpferischen Zeitgenossen dünken. Schiller berichtet von sich: »Eine gewisse musikalische Gemüts- stimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee«; 2) mehrere seiner Werke knüpfen unmittelbar an bestimmte musikalische Eindrücke an, z. B. die Jungfrau von Orleans an die Aufführung eines Werkes von Gluck. Das Gefühl, dass »das Drama zur Musik neige«, beschäftigt den edlen Dichter immerwährend. In seinem Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797 geht er der Sache tief auf den Grund: »Um von einem Kunstwerk alles auszuschliessen, was seiner Gattung fremd ist, muss man notwendig alles darin ein- schliessen können, was der Gattung gebührt. Und eben darin fehlt es jetzt (dem tragischen Dichter). .... Das Empfindungs- vermögen des Zuschauers und Hörers muss einmal ausgefüllt und in allen Punkten seiner Peripherie berührt werden; der Durch- messer dieses Vermögens ist das Mass für den Poeten«; und am Schlusse dieses Briefes setzt er seine Hoffnung auf die Musik und erwartet von ihr die Ausfüllung dieser im modernen Drama so schmerz- haft empfundenen Lücke. Die Musik auf der Bühne kannte er ja nur als Oper, und so erhoffte er von dieser: »dass aus ihr, wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt sich loswickeln werde«. Bei Goethe müsste man vor allem das 1) Früchte aus den sogenannt goldenen Zeiten des 18. Jahrhunderts, 11. Das Drama. 2) Brief an Goethe vom 18. März 1796.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 986. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/465>, abgerufen am 22.11.2024.