Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. Dichter betrachten müssen, wollen wir ihnen gerecht werden unddadurch unser Verständnis fördern; im Reiche germanischer Poesie nehmen sie eine Ehrenstelle ein; kein Poet der Welt ist grösser als Johann Sebastian Bach. Keine Kunst, ausser der Musik, war im Stande, die christliche Religion künstlerisch zu gestalten, denn sie allein konnte diesen Blick nach innen auffangen und zurückstrahlen (siehe S. 961); wie arm ist in dieser Beziehung ein Dante einem Bach gegenüber! Und zwar geht dann dieser spezifisch christliche Charakter von den Werken, in denen das Evangelium thatsächlich zum Worte kommt, auf andere, rein instrumentale über (ein Beispiel des vorhin genannten analogischen Verfahrens); das Wohltemperierte Klavier z. B. gehört in dieser Beziehung zu den erhabensten Werken der Menschheit, und ich könnte dem Leser ein Präludium daraus nennen, in welchem die Worte: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun -- oder vielmehr nicht die Worte, doch die göttliche Gemütsverfassung, aus der sie hervorgingen -- so deutlichen, ergreifenden Ausdruck ge- funden haben, dass jede andere Kunst verzweifeln muss, jemals diese reine Wirkung zu erzielen. Was wir aber hier christlich nennen, ist zugleich das spezifisch germanische, und wir dürfen deswegen in einem gewissen Sinne wohl behaupten, unsere echtesten, grössten Dichter seien unsere grossen Tondichter. Dies gilt namentlich für Deutschland, wo, wie Beethoven so treffend gesagt hat, "Musik National-Bedürfnis ist".1) Sodann aber entdecken wir in unserer Dichtung, auch abseits von der Musik, eine Neigung oder vielmehr einen unwiderstehlichen Trieb zur Entwickelung nach der musikalischen Seite hin, der uns jetzt erst seinen tieferen Sinn enthüllt. Die Ein- führung des den Alten unbekannten Reimes z. B. ist nichts Zufälliges; sie entstammt einem musikalischen Bedürfnis. Weit bedeutender ist die Thatsache des geradezu grossartigen musikalischen Sinnes, den wir bei unseren Dichtern antreffen. Man lese nur jene wundervollen zwei Seiten, in denen Carlyle zeigt, dass Dante's Divina Commedia durch und durch Musik ist: Musik im architektonischen Aufbau der drei Teile, Musik nicht allein im Rhythmus der Worte, sondern, wie er sagt, "im Rhythmus der Gedanken", Musik in der Glut und Leiden- schaft der Empfindungen; "greift nur tief hinein, ihr werdet überall Musik finden"!2) Unsere Dichter sind alle -- je bedeutender, um so 1) Brief an Hofrat von Mosel (vergl. Nohl: Briefe Beethoven's, 1865, S. 159). 2) Hero-Worship, 3. Vorlesung.
Die Entstehung einer neuen Welt. Dichter betrachten müssen, wollen wir ihnen gerecht werden unddadurch unser Verständnis fördern; im Reiche germanischer Poesie nehmen sie eine Ehrenstelle ein; kein Poet der Welt ist grösser als Johann Sebastian Bach. Keine Kunst, ausser der Musik, war im Stande, die christliche Religion künstlerisch zu gestalten, denn sie allein konnte diesen Blick nach innen auffangen und zurückstrahlen (siehe S. 961); wie arm ist in dieser Beziehung ein Dante einem Bach gegenüber! Und zwar geht dann dieser spezifisch christliche Charakter von den Werken, in denen das Evangelium thatsächlich zum Worte kommt, auf andere, rein instrumentale über (ein Beispiel des vorhin genannten analogischen Verfahrens); das Wohltemperierte Klavier z. B. gehört in dieser Beziehung zu den erhabensten Werken der Menschheit, und ich könnte dem Leser ein Präludium daraus nennen, in welchem die Worte: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun — oder vielmehr nicht die Worte, doch die göttliche Gemütsverfassung, aus der sie hervorgingen — so deutlichen, ergreifenden Ausdruck ge- funden haben, dass jede andere Kunst verzweifeln muss, jemals diese reine Wirkung zu erzielen. Was wir aber hier christlich nennen, ist zugleich das spezifisch germanische, und wir dürfen deswegen in einem gewissen Sinne wohl behaupten, unsere echtesten, grössten Dichter seien unsere grossen Tondichter. Dies gilt namentlich für Deutschland, wo, wie Beethoven so treffend gesagt hat, »Musik National-Bedürfnis ist«.1) Sodann aber entdecken wir in unserer Dichtung, auch abseits von der Musik, eine Neigung oder vielmehr einen unwiderstehlichen Trieb zur Entwickelung nach der musikalischen Seite hin, der uns jetzt erst seinen tieferen Sinn enthüllt. Die Ein- führung des den Alten unbekannten Reimes z. B. ist nichts Zufälliges; sie entstammt einem musikalischen Bedürfnis. Weit bedeutender ist die Thatsache des geradezu grossartigen musikalischen Sinnes, den wir bei unseren Dichtern antreffen. Man lese nur jene wundervollen zwei Seiten, in denen Carlyle zeigt, dass Dante’s Divina Commedia durch und durch Musik ist: Musik im architektonischen Aufbau der drei Teile, Musik nicht allein im Rhythmus der Worte, sondern, wie er sagt, »im Rhythmus der Gedanken«, Musik in der Glut und Leiden- schaft der Empfindungen; »greift nur tief hinein, ihr werdet überall Musik finden«!2) Unsere Dichter sind alle — je bedeutender, um so 1) Brief an Hofrat von Mosel (vergl. Nohl: Briefe Beethoven’s, 1865, S. 159). 2) Hero-Worship, 3. Vorlesung.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0463" n="984"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/><hi rendition="#g">Dichter</hi> betrachten müssen, wollen wir ihnen gerecht werden und<lb/> dadurch unser Verständnis fördern; im Reiche germanischer Poesie<lb/> nehmen sie eine Ehrenstelle ein; kein Poet der Welt ist grösser als<lb/> Johann Sebastian Bach. Keine Kunst, ausser der Musik, war im Stande,<lb/> die christliche Religion künstlerisch zu gestalten, denn sie allein konnte<lb/> diesen Blick nach innen auffangen und zurückstrahlen (siehe S. 961);<lb/> wie arm ist in dieser Beziehung ein Dante einem Bach gegenüber!<lb/> Und zwar geht dann dieser spezifisch christliche Charakter von den<lb/> Werken, in denen das Evangelium thatsächlich zum Worte kommt,<lb/> auf andere, rein instrumentale über (ein Beispiel des vorhin genannten<lb/> analogischen Verfahrens); das <hi rendition="#i">Wohltemperierte Klavier</hi> z. B. gehört<lb/> in dieser Beziehung zu den erhabensten Werken der Menschheit, und<lb/> ich könnte dem Leser ein Präludium daraus nennen, in welchem die<lb/> Worte: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun<lb/> — oder vielmehr nicht die Worte, doch die göttliche Gemütsverfassung,<lb/> aus der sie hervorgingen — so deutlichen, ergreifenden Ausdruck ge-<lb/> funden haben, dass jede andere Kunst verzweifeln muss, jemals diese<lb/> reine Wirkung zu erzielen. Was wir aber hier christlich nennen, ist<lb/> zugleich das spezifisch germanische, und wir dürfen deswegen in<lb/> einem gewissen Sinne wohl behaupten, unsere echtesten, grössten<lb/> Dichter seien unsere grossen Tondichter. Dies gilt namentlich für<lb/> Deutschland, wo, wie Beethoven so treffend gesagt hat, »Musik<lb/> National-Bedürfnis ist«.<note place="foot" n="1)">Brief an Hofrat von Mosel (vergl. Nohl: <hi rendition="#i">Briefe Beethoven’s,</hi> 1865, S. 159).</note> Sodann aber entdecken wir in unserer<lb/> Dichtung, auch abseits von der Musik, eine Neigung oder vielmehr<lb/> einen unwiderstehlichen Trieb zur Entwickelung nach der musikalischen<lb/> Seite hin, der uns jetzt erst seinen tieferen Sinn enthüllt. Die Ein-<lb/> führung des den Alten unbekannten Reimes z. B. ist nichts Zufälliges;<lb/> sie entstammt einem musikalischen Bedürfnis. Weit bedeutender ist<lb/> die Thatsache des geradezu grossartigen musikalischen Sinnes, den<lb/> wir bei unseren Dichtern antreffen. Man lese nur jene wundervollen<lb/> zwei Seiten, in denen Carlyle zeigt, dass Dante’s <hi rendition="#i">Divina Commedia</hi> durch<lb/> und durch Musik ist: Musik im architektonischen Aufbau der drei<lb/> Teile, Musik nicht allein im Rhythmus der Worte, sondern, wie er<lb/> sagt, »im Rhythmus der Gedanken«, Musik in der Glut und Leiden-<lb/> schaft der Empfindungen; »greift nur tief hinein, ihr werdet überall<lb/> Musik finden«!<note place="foot" n="2)"><hi rendition="#i">Hero-Worship,</hi> 3. Vorlesung.</note> Unsere Dichter sind alle — je bedeutender, um so<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [984/0463]
Die Entstehung einer neuen Welt.
Dichter betrachten müssen, wollen wir ihnen gerecht werden und
dadurch unser Verständnis fördern; im Reiche germanischer Poesie
nehmen sie eine Ehrenstelle ein; kein Poet der Welt ist grösser als
Johann Sebastian Bach. Keine Kunst, ausser der Musik, war im Stande,
die christliche Religion künstlerisch zu gestalten, denn sie allein konnte
diesen Blick nach innen auffangen und zurückstrahlen (siehe S. 961);
wie arm ist in dieser Beziehung ein Dante einem Bach gegenüber!
Und zwar geht dann dieser spezifisch christliche Charakter von den
Werken, in denen das Evangelium thatsächlich zum Worte kommt,
auf andere, rein instrumentale über (ein Beispiel des vorhin genannten
analogischen Verfahrens); das Wohltemperierte Klavier z. B. gehört
in dieser Beziehung zu den erhabensten Werken der Menschheit, und
ich könnte dem Leser ein Präludium daraus nennen, in welchem die
Worte: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun
— oder vielmehr nicht die Worte, doch die göttliche Gemütsverfassung,
aus der sie hervorgingen — so deutlichen, ergreifenden Ausdruck ge-
funden haben, dass jede andere Kunst verzweifeln muss, jemals diese
reine Wirkung zu erzielen. Was wir aber hier christlich nennen, ist
zugleich das spezifisch germanische, und wir dürfen deswegen in
einem gewissen Sinne wohl behaupten, unsere echtesten, grössten
Dichter seien unsere grossen Tondichter. Dies gilt namentlich für
Deutschland, wo, wie Beethoven so treffend gesagt hat, »Musik
National-Bedürfnis ist«. 1) Sodann aber entdecken wir in unserer
Dichtung, auch abseits von der Musik, eine Neigung oder vielmehr
einen unwiderstehlichen Trieb zur Entwickelung nach der musikalischen
Seite hin, der uns jetzt erst seinen tieferen Sinn enthüllt. Die Ein-
führung des den Alten unbekannten Reimes z. B. ist nichts Zufälliges;
sie entstammt einem musikalischen Bedürfnis. Weit bedeutender ist
die Thatsache des geradezu grossartigen musikalischen Sinnes, den
wir bei unseren Dichtern antreffen. Man lese nur jene wundervollen
zwei Seiten, in denen Carlyle zeigt, dass Dante’s Divina Commedia durch
und durch Musik ist: Musik im architektonischen Aufbau der drei
Teile, Musik nicht allein im Rhythmus der Worte, sondern, wie er
sagt, »im Rhythmus der Gedanken«, Musik in der Glut und Leiden-
schaft der Empfindungen; »greift nur tief hinein, ihr werdet überall
Musik finden«! 2) Unsere Dichter sind alle — je bedeutender, um so
1) Brief an Hofrat von Mosel (vergl. Nohl: Briefe Beethoven’s, 1865, S. 159).
2) Hero-Worship, 3. Vorlesung.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |