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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Bestimmtheit erreicht hatte, dass sie in tollkühner Verzweiflung es unter-
nahm, selber zu dichten; doch näherte sich Beethoven immer mehr und
mehr der Poesie, sei es durch das Programm, sei es durch Bevorzugung
vokaler Kompositionen. Ich bestreite nicht die Berechtigung der reinen
Instrumentalmusik -- eine Unterschiebung, gegen die Lessing sich gleich-
falls ausdrücklich verwahrt --, ich bin ihr glühender Bewunderer und
meine, echte Kammermusik (in der Kammer, nicht im Konzertsaal
gepflegt) gehöre zu den segenvollsten Bereicherungen des Seelenlebens;
ich stelle aber fest, dass alle derartige Musik ihre Existenzfähigkeit
von den Errungenschaften des Gesanges ableitet, und dass jede einzelne
Erweiterung und Vermehrung des musikalischen Ausdruckes immer
von derjenigen Musik ausgeht, welche dem "moralischen Willen" des
gestaltenden Poeten unterworfen ist -- wir erlebten es ja wieder in
unserem Jahrhundert. Was man nun leicht übersieht, bei der Be-
urteilung unserer Kunst als eines Ganzen aber keinesfalls übersehen
darf, ist, dass -- wie soeben gezeigt -- der Dichter auch in den
Werken der sogenannten absoluten Musik überall, wenn auch oft un-
bemerkt, neben dem Tonkünstler steht. Wäre diese Tonkunst nicht
unter dem Fittig des Poeten herangewachsen, wir wären unfähig, sie
zu verstehen, und auch jetzt kann sie des Poeten nicht entraten, nur
wendet sie sich an den Zuhörer und bittet ihn, dieses Amt zu über-
nehmen, was er aber nur vermag, so lange die Musik sich aus dem
Kreise des aus Analogie Bekannten nicht entfernt. Goethe bezeichnet
es als ein Charakteristikum germanischer Poesie überhaupt, im Gegen-
satz zur hellenischen:

Hier fordert man Euch auf zu eignem Dichten,
Von Euch verlangt man eine Welt zur Welt

und nirgends trifft das mehr zu, als in unserer reinen Instrumentalmusik.
Eine wirklich, buchstäblich "absolute" Musik, wäre eine Monstrosität
sondergleichen; denn sie wäre ein Ausdruck, der nichts ausdrückt.

Eine lebendige Vorstellung unserer gesamten Kunstentwickelung
wird man nie gewinnen, wenn man sich nicht zuerst mit einem
kritischen Verständnis der germanischen Musik wappnet, um sich so-
dann zu einer Betrachtung der Poesie in ihrem weitesten Umfange zurück-
zuwenden. Jetzt erst wird einem Lessing's Wort: "Poesie und Musik sind
eine und ebendieselbe Kunst" wirklich klar, und im Lichte dieser Er-
kenntnis hellt sich unsere Kunstgeschichte im weitesten Umfange auf.
Zunächst sticht es in die Augen, dass wir unsere grossen Musiker als

Kunst.
Bestimmtheit erreicht hatte, dass sie in tollkühner Verzweiflung es unter-
nahm, selber zu dichten; doch näherte sich Beethoven immer mehr und
mehr der Poesie, sei es durch das Programm, sei es durch Bevorzugung
vokaler Kompositionen. Ich bestreite nicht die Berechtigung der reinen
Instrumentalmusik — eine Unterschiebung, gegen die Lessing sich gleich-
falls ausdrücklich verwahrt —, ich bin ihr glühender Bewunderer und
meine, echte Kammermusik (in der Kammer, nicht im Konzertsaal
gepflegt) gehöre zu den segenvollsten Bereicherungen des Seelenlebens;
ich stelle aber fest, dass alle derartige Musik ihre Existenzfähigkeit
von den Errungenschaften des Gesanges ableitet, und dass jede einzelne
Erweiterung und Vermehrung des musikalischen Ausdruckes immer
von derjenigen Musik ausgeht, welche dem »moralischen Willen« des
gestaltenden Poeten unterworfen ist — wir erlebten es ja wieder in
unserem Jahrhundert. Was man nun leicht übersieht, bei der Be-
urteilung unserer Kunst als eines Ganzen aber keinesfalls übersehen
darf, ist, dass — wie soeben gezeigt — der Dichter auch in den
Werken der sogenannten absoluten Musik überall, wenn auch oft un-
bemerkt, neben dem Tonkünstler steht. Wäre diese Tonkunst nicht
unter dem Fittig des Poeten herangewachsen, wir wären unfähig, sie
zu verstehen, und auch jetzt kann sie des Poeten nicht entraten, nur
wendet sie sich an den Zuhörer und bittet ihn, dieses Amt zu über-
nehmen, was er aber nur vermag, so lange die Musik sich aus dem
Kreise des aus Analogie Bekannten nicht entfernt. Goethe bezeichnet
es als ein Charakteristikum germanischer Poesie überhaupt, im Gegen-
satz zur hellenischen:

Hier fordert man Euch auf zu eignem Dichten,
Von Euch verlangt man eine Welt zur Welt

und nirgends trifft das mehr zu, als in unserer reinen Instrumentalmusik.
Eine wirklich, buchstäblich »absolute« Musik, wäre eine Monstrosität
sondergleichen; denn sie wäre ein Ausdruck, der nichts ausdrückt.

Eine lebendige Vorstellung unserer gesamten Kunstentwickelung
wird man nie gewinnen, wenn man sich nicht zuerst mit einem
kritischen Verständnis der germanischen Musik wappnet, um sich so-
dann zu einer Betrachtung der Poesie in ihrem weitesten Umfange zurück-
zuwenden. Jetzt erst wird einem Lessing’s Wort: »Poesie und Musik sind
eine und ebendieselbe Kunst« wirklich klar, und im Lichte dieser Er-
kenntnis hellt sich unsere Kunstgeschichte im weitesten Umfange auf.
Zunächst sticht es in die Augen, dass wir unsere grossen Musiker als

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[983/0462] Kunst. Bestimmtheit erreicht hatte, dass sie in tollkühner Verzweiflung es unter- nahm, selber zu dichten; doch näherte sich Beethoven immer mehr und mehr der Poesie, sei es durch das Programm, sei es durch Bevorzugung vokaler Kompositionen. Ich bestreite nicht die Berechtigung der reinen Instrumentalmusik — eine Unterschiebung, gegen die Lessing sich gleich- falls ausdrücklich verwahrt —, ich bin ihr glühender Bewunderer und meine, echte Kammermusik (in der Kammer, nicht im Konzertsaal gepflegt) gehöre zu den segenvollsten Bereicherungen des Seelenlebens; ich stelle aber fest, dass alle derartige Musik ihre Existenzfähigkeit von den Errungenschaften des Gesanges ableitet, und dass jede einzelne Erweiterung und Vermehrung des musikalischen Ausdruckes immer von derjenigen Musik ausgeht, welche dem »moralischen Willen« des gestaltenden Poeten unterworfen ist — wir erlebten es ja wieder in unserem Jahrhundert. Was man nun leicht übersieht, bei der Be- urteilung unserer Kunst als eines Ganzen aber keinesfalls übersehen darf, ist, dass — wie soeben gezeigt — der Dichter auch in den Werken der sogenannten absoluten Musik überall, wenn auch oft un- bemerkt, neben dem Tonkünstler steht. Wäre diese Tonkunst nicht unter dem Fittig des Poeten herangewachsen, wir wären unfähig, sie zu verstehen, und auch jetzt kann sie des Poeten nicht entraten, nur wendet sie sich an den Zuhörer und bittet ihn, dieses Amt zu über- nehmen, was er aber nur vermag, so lange die Musik sich aus dem Kreise des aus Analogie Bekannten nicht entfernt. Goethe bezeichnet es als ein Charakteristikum germanischer Poesie überhaupt, im Gegen- satz zur hellenischen: Hier fordert man Euch auf zu eignem Dichten, Von Euch verlangt man eine Welt zur Welt und nirgends trifft das mehr zu, als in unserer reinen Instrumentalmusik. Eine wirklich, buchstäblich »absolute« Musik, wäre eine Monstrosität sondergleichen; denn sie wäre ein Ausdruck, der nichts ausdrückt. Eine lebendige Vorstellung unserer gesamten Kunstentwickelung wird man nie gewinnen, wenn man sich nicht zuerst mit einem kritischen Verständnis der germanischen Musik wappnet, um sich so- dann zu einer Betrachtung der Poesie in ihrem weitesten Umfange zurück- zuwenden. Jetzt erst wird einem Lessing’s Wort: »Poesie und Musik sind eine und ebendieselbe Kunst« wirklich klar, und im Lichte dieser Er- kenntnis hellt sich unsere Kunstgeschichte im weitesten Umfange auf. Zunächst sticht es in die Augen, dass wir unsere grossen Musiker als

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 983. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/462>, abgerufen am 15.06.2024.