Thür und Fenster weit aufwerfen und die dumpfe Stubenluft einer Geschichtsphilosophie, in der uns weder die Vergangenheit deutlich, noch die Gegenwart bedeutsam wird, durch den Sonnenschein der herrlichen Wirklichkeit und die frische Luft des brausenden Werdens verjagen. Ich fasse also die weitere Zurückweisung kurz zusammen.
Etwa 150 Jahre nach Raffael's Tod -- Kepler und Galilei waren schon längst, Harvey vor einiger Zeit gestorben, Swammerdam war beschäftigt, ungeahnte Geheimnisse der Anatomie aufzudecken, Newton hatte bereits sein System der Gravitation ausgearbeitet und John Locke unternahm soeben als vierzigjähriger Mann seine wissenschaftliche Analyse des Menschengeistes -- da wurde eine Dichtung geschrieben, von der Goethe gesagt hat: "wenn die Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie aus diesem Stück wieder herstellen"; das wäre, dächte ich, Kunst des Genies im superlativsten Sinne des Wortes! Der Künstler war Calderon, das Kunstwerk Der standhafte Prinz.1) So überschwengliche Worte aus dem Munde eines so urteils- fähigen und stets gemessen redenden Mannes lassen uns empfinden, dass die schöpferische Kraft der Kunst im 17. Jahrhundert nicht nach- gelassen hatte. Wir werden um so weniger daran zweifeln, wenn wir bedenken, dass Newton, der Zeitgenosse Calderon's, sehr gut Rembrandt an der Staffelei hätte sehen können und vielleicht -- ich weiss es nicht -- gesehen hat, ebenso wie er bei einer Reise durch Deutschland den grossen Thomaskantor hätte eine seiner Passionen aufführen gehört, und ohne Zweifel Händel -- der lange vor Newton's Tode nach England übergesiedelt war -- gesehen und gekannt hat. Hiermit reichen wir aber bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus; in dem Jahre als Händel starb, stand Gluck auf der Höhe seines Könnens, Mozart war geboren und Goethe hatte, wenn auch noch nicht für die Welt, so doch für seinen früh verstorbenen Bruder Jakob schon viel geschrieben und war soeben, infolge der Anwesenheit der Franzosen in Frankfurt, mit dem Theater vor und hinter den Coulissen vertraut geworden; vor Schluss desselben Jahres erblickte Schiller das Licht der Welt. Schon diese flüchtigen Andeutungen -- bei denen ich des blühenden Kunstlebens Englands, von Chaucer bis Shakespeare, und von diesem bis Hogarth und Byron, und der reichen Schöpfungen Frankreichs, von der Erfindung des gotischen Baustils im 12. und 13. Jahrhundert an, bis zu dem grossen Racine
1)Bf. an Schiller vom 28. Januar 1804. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts.
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Kunst.
Thür und Fenster weit aufwerfen und die dumpfe Stubenluft einer Geschichtsphilosophie, in der uns weder die Vergangenheit deutlich, noch die Gegenwart bedeutsam wird, durch den Sonnenschein der herrlichen Wirklichkeit und die frische Luft des brausenden Werdens verjagen. Ich fasse also die weitere Zurückweisung kurz zusammen.
Etwa 150 Jahre nach Raffael’s Tod — Kepler und Galilei waren schon längst, Harvey vor einiger Zeit gestorben, Swammerdam war beschäftigt, ungeahnte Geheimnisse der Anatomie aufzudecken, Newton hatte bereits sein System der Gravitation ausgearbeitet und John Locke unternahm soeben als vierzigjähriger Mann seine wissenschaftliche Analyse des Menschengeistes — da wurde eine Dichtung geschrieben, von der Goethe gesagt hat: »wenn die Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie aus diesem Stück wieder herstellen«; das wäre, dächte ich, Kunst des Genies im superlativsten Sinne des Wortes! Der Künstler war Calderon, das Kunstwerk Der standhafte Prinz.1) So überschwengliche Worte aus dem Munde eines so urteils- fähigen und stets gemessen redenden Mannes lassen uns empfinden, dass die schöpferische Kraft der Kunst im 17. Jahrhundert nicht nach- gelassen hatte. Wir werden um so weniger daran zweifeln, wenn wir bedenken, dass Newton, der Zeitgenosse Calderon’s, sehr gut Rembrandt an der Staffelei hätte sehen können und vielleicht — ich weiss es nicht — gesehen hat, ebenso wie er bei einer Reise durch Deutschland den grossen Thomaskantor hätte eine seiner Passionen aufführen gehört, und ohne Zweifel Händel — der lange vor Newton’s Tode nach England übergesiedelt war — gesehen und gekannt hat. Hiermit reichen wir aber bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus; in dem Jahre als Händel starb, stand Gluck auf der Höhe seines Könnens, Mozart war geboren und Goethe hatte, wenn auch noch nicht für die Welt, so doch für seinen früh verstorbenen Bruder Jakob schon viel geschrieben und war soeben, infolge der Anwesenheit der Franzosen in Frankfurt, mit dem Theater vor und hinter den Coulissen vertraut geworden; vor Schluss desselben Jahres erblickte Schiller das Licht der Welt. Schon diese flüchtigen Andeutungen — bei denen ich des blühenden Kunstlebens Englands, von Chaucer bis Shakespeare, und von diesem bis Hogarth und Byron, und der reichen Schöpfungen Frankreichs, von der Erfindung des gotischen Baustils im 12. und 13. Jahrhundert an, bis zu dem grossen Racine
1)Bf. an Schiller vom 28. Januar 1804. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts.
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Kunst.
Thür und Fenster weit aufwerfen und die dumpfe Stubenluft einer
Geschichtsphilosophie, in der uns weder die Vergangenheit deutlich,
noch die Gegenwart bedeutsam wird, durch den Sonnenschein der
herrlichen Wirklichkeit und die frische Luft des brausenden Werdens
verjagen. Ich fasse also die weitere Zurückweisung kurz zusammen.
Etwa 150 Jahre nach Raffael’s Tod — Kepler und Galilei waren
schon längst, Harvey vor einiger Zeit gestorben, Swammerdam war
beschäftigt, ungeahnte Geheimnisse der Anatomie aufzudecken, Newton
hatte bereits sein System der Gravitation ausgearbeitet und John Locke
unternahm soeben als vierzigjähriger Mann seine wissenschaftliche
Analyse des Menschengeistes — da wurde eine Dichtung geschrieben,
von der Goethe gesagt hat: »wenn die Poesie ganz von der Welt
verloren ginge, so könnte man sie aus diesem Stück wieder herstellen«;
das wäre, dächte ich, Kunst des Genies im superlativsten Sinne des
Wortes! Der Künstler war Calderon, das Kunstwerk Der standhafte
Prinz. 1) So überschwengliche Worte aus dem Munde eines so urteils-
fähigen und stets gemessen redenden Mannes lassen uns empfinden,
dass die schöpferische Kraft der Kunst im 17. Jahrhundert nicht nach-
gelassen hatte. Wir werden um so weniger daran zweifeln, wenn
wir bedenken, dass Newton, der Zeitgenosse Calderon’s, sehr gut
Rembrandt an der Staffelei hätte sehen können und vielleicht — ich
weiss es nicht — gesehen hat, ebenso wie er bei einer Reise durch
Deutschland den grossen Thomaskantor hätte eine seiner Passionen
aufführen gehört, und ohne Zweifel Händel — der lange vor Newton’s
Tode nach England übergesiedelt war — gesehen und gekannt hat.
Hiermit reichen wir aber bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts
hinaus; in dem Jahre als Händel starb, stand Gluck auf der Höhe
seines Könnens, Mozart war geboren und Goethe hatte, wenn auch
noch nicht für die Welt, so doch für seinen früh verstorbenen Bruder
Jakob schon viel geschrieben und war soeben, infolge der Anwesenheit
der Franzosen in Frankfurt, mit dem Theater vor und hinter den
Coulissen vertraut geworden; vor Schluss desselben Jahres erblickte
Schiller das Licht der Welt. Schon diese flüchtigen Andeutungen
— bei denen ich des blühenden Kunstlebens Englands, von Chaucer
bis Shakespeare, und von diesem bis Hogarth und Byron, und der
reichen Schöpfungen Frankreichs, von der Erfindung des gotischen
Baustils im 12. und 13. Jahrhundert an, bis zu dem grossen Racine
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 969. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/448>, abgerufen am 22.11.2024.
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