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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
thun; denn Kunst -- Kunst des Genies -- "ist stets am Ziel", wie
Schopenhauer treffend bemerkt hat; es giebt keinen Fortschritt über
Homer hinaus, über Michelangelo hinaus, über Bach hinaus; wogegen
Wissenschaft ihrem Wesen nach "kumulativ" ist und jeder Forscher
seinem Vorgänger auf den Schultern steht. Der bescheidene Purbach
ebnet die Wege für das Wunderkind Regiomontanus, dieser macht
Kopernikus möglich, auf ihm wieder fussen Kepler und Galilei (ge-
boren im Jahre von Michelangelo's Tode), auf diesen Newton. Nach
welchem Kriterium will man hier die "beste Frucht" bestimmen?
Eine einzige Erwägung wird zeigen, wie wenig die künstliche Be-
stimmung nach a priori Zurechtlegungen zulässig ist. Die grossen
Entdeckungen von Columbus, Vasco di Gama, Magalhanes u. s. w. sind
alle schon eine Frucht exakter wissenschaftlicher Arbeit. Toscanelli
(geb. 1397), der Ratgeber des Columbus und vermutliche Urheber
seiner Reise nach Westen, war ein sehr tüchtiger, gelehrter Astronom
und Kosmograph, der die sphärische Gestalt der Erde zu beweisen
unternahm und dessen Karte des Atlantischen Ozeans, die Columbus
auf seiner ersten Reise benutzte, ein Wunderwerk des Wissens und
der Intuition ist. Bei ihm hat der Florentiner Amerigo Vespucci noch
persönlich Unterricht genommen und dadurch die Befähigung gewonnen,
die ersten genauen geographischen Ortsbestimmungen der amerikanischen
Küste aufzunehmen. Doch hätte das nicht genügt. Ohne die be-
wundernswert genauen astronomischen Ephemeriden des Regiomon-
tanus, die dieser auf Grundlage seiner astronomischen Beobachtungen
und neuen Methoden für die Zeit 1475--1506 vorausberechnet und
gedruckt hatte, wäre überhaupt keine transatlantische Entdeckungs-
reise möglich gewesen; von Columbus an hat sie jeder Entdecker
an Bord gehabt.1) Ich dächte, die Entdeckung der Welt, deren
"heroische Zeit" ganz genau mit der höchsten Blüte der bildenden
Künste in Italien zusammenfällt, wäre schon eine "Frucht", die der
Beachtung eben so wert ist wie eine Madonna des Raffael; die Wissen-
schaft, welche sie vorbereitet und ermöglicht hat, ist der Kunst nicht
nachgehinkt, sondern eher vorangeeilt.

Wollten wir unserem Kunsthistoriker noch weiter Schritt für
Schritt nachgehen, wir würden lange mit ihm zu thun haben; doch
meine ich, jetzt wo wir die Grundlagen seiner ferneren Behauptungen
Wort für Wort als unstichhaltig befunden haben, dürfen wir schon

1) Für alle diese Angaben siehe Fiske: The discovery of America.

Die Entstehung einer neuen Welt.
thun; denn Kunst — Kunst des Genies — »ist stets am Ziel«, wie
Schopenhauer treffend bemerkt hat; es giebt keinen Fortschritt über
Homer hinaus, über Michelangelo hinaus, über Bach hinaus; wogegen
Wissenschaft ihrem Wesen nach »kumulativ« ist und jeder Forscher
seinem Vorgänger auf den Schultern steht. Der bescheidene Purbach
ebnet die Wege für das Wunderkind Regiomontanus, dieser macht
Kopernikus möglich, auf ihm wieder fussen Kepler und Galilei (ge-
boren im Jahre von Michelangelo’s Tode), auf diesen Newton. Nach
welchem Kriterium will man hier die »beste Frucht« bestimmen?
Eine einzige Erwägung wird zeigen, wie wenig die künstliche Be-
stimmung nach a priori Zurechtlegungen zulässig ist. Die grossen
Entdeckungen von Columbus, Vasco di Gama, Magalhães u. s. w. sind
alle schon eine Frucht exakter wissenschaftlicher Arbeit. Toscanelli
(geb. 1397), der Ratgeber des Columbus und vermutliche Urheber
seiner Reise nach Westen, war ein sehr tüchtiger, gelehrter Astronom
und Kosmograph, der die sphärische Gestalt der Erde zu beweisen
unternahm und dessen Karte des Atlantischen Ozeans, die Columbus
auf seiner ersten Reise benutzte, ein Wunderwerk des Wissens und
der Intuition ist. Bei ihm hat der Florentiner Amerigo Vespucci noch
persönlich Unterricht genommen und dadurch die Befähigung gewonnen,
die ersten genauen geographischen Ortsbestimmungen der amerikanischen
Küste aufzunehmen. Doch hätte das nicht genügt. Ohne die be-
wundernswert genauen astronomischen Ephemeriden des Regiomon-
tanus, die dieser auf Grundlage seiner astronomischen Beobachtungen
und neuen Methoden für die Zeit 1475—1506 vorausberechnet und
gedruckt hatte, wäre überhaupt keine transatlantische Entdeckungs-
reise möglich gewesen; von Columbus an hat sie jeder Entdecker
an Bord gehabt.1) Ich dächte, die Entdeckung der Welt, deren
»heroische Zeit« ganz genau mit der höchsten Blüte der bildenden
Künste in Italien zusammenfällt, wäre schon eine »Frucht«, die der
Beachtung eben so wert ist wie eine Madonna des Raffael; die Wissen-
schaft, welche sie vorbereitet und ermöglicht hat, ist der Kunst nicht
nachgehinkt, sondern eher vorangeeilt.

Wollten wir unserem Kunsthistoriker noch weiter Schritt für
Schritt nachgehen, wir würden lange mit ihm zu thun haben; doch
meine ich, jetzt wo wir die Grundlagen seiner ferneren Behauptungen
Wort für Wort als unstichhaltig befunden haben, dürfen wir schon

1) Für alle diese Angaben siehe Fiske: The discovery of America.
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[968/0447] Die Entstehung einer neuen Welt. thun; denn Kunst — Kunst des Genies — »ist stets am Ziel«, wie Schopenhauer treffend bemerkt hat; es giebt keinen Fortschritt über Homer hinaus, über Michelangelo hinaus, über Bach hinaus; wogegen Wissenschaft ihrem Wesen nach »kumulativ« ist und jeder Forscher seinem Vorgänger auf den Schultern steht. Der bescheidene Purbach ebnet die Wege für das Wunderkind Regiomontanus, dieser macht Kopernikus möglich, auf ihm wieder fussen Kepler und Galilei (ge- boren im Jahre von Michelangelo’s Tode), auf diesen Newton. Nach welchem Kriterium will man hier die »beste Frucht« bestimmen? Eine einzige Erwägung wird zeigen, wie wenig die künstliche Be- stimmung nach a priori Zurechtlegungen zulässig ist. Die grossen Entdeckungen von Columbus, Vasco di Gama, Magalhães u. s. w. sind alle schon eine Frucht exakter wissenschaftlicher Arbeit. Toscanelli (geb. 1397), der Ratgeber des Columbus und vermutliche Urheber seiner Reise nach Westen, war ein sehr tüchtiger, gelehrter Astronom und Kosmograph, der die sphärische Gestalt der Erde zu beweisen unternahm und dessen Karte des Atlantischen Ozeans, die Columbus auf seiner ersten Reise benutzte, ein Wunderwerk des Wissens und der Intuition ist. Bei ihm hat der Florentiner Amerigo Vespucci noch persönlich Unterricht genommen und dadurch die Befähigung gewonnen, die ersten genauen geographischen Ortsbestimmungen der amerikanischen Küste aufzunehmen. Doch hätte das nicht genügt. Ohne die be- wundernswert genauen astronomischen Ephemeriden des Regiomon- tanus, die dieser auf Grundlage seiner astronomischen Beobachtungen und neuen Methoden für die Zeit 1475—1506 vorausberechnet und gedruckt hatte, wäre überhaupt keine transatlantische Entdeckungs- reise möglich gewesen; von Columbus an hat sie jeder Entdecker an Bord gehabt. 1) Ich dächte, die Entdeckung der Welt, deren »heroische Zeit« ganz genau mit der höchsten Blüte der bildenden Künste in Italien zusammenfällt, wäre schon eine »Frucht«, die der Beachtung eben so wert ist wie eine Madonna des Raffael; die Wissen- schaft, welche sie vorbereitet und ermöglicht hat, ist der Kunst nicht nachgehinkt, sondern eher vorangeeilt. Wollten wir unserem Kunsthistoriker noch weiter Schritt für Schritt nachgehen, wir würden lange mit ihm zu thun haben; doch meine ich, jetzt wo wir die Grundlagen seiner ferneren Behauptungen Wort für Wort als unstichhaltig befunden haben, dürfen wir schon 1) Für alle diese Angaben siehe Fiske: The discovery of America.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 968. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/447>, abgerufen am 23.11.2024.