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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
schaft nur wenig von bleibender Bedeutung geleistet, denn sie waren
allzu hastige, schlechte Beobachter; doch ragen zwei Namen hoch
empor, so dass sie noch heute jedem Kinde bekannt sind: Hippokrates,
der Begründer wissenschaftlicher Medizin, und Demokrit, der weitaus
bedeutendste aller hellenischen naturforschenden Denker, der einzige,
der heute noch weiterschaffend unter uns lebt;1) und beide sind --
Zeitgenossen des Phidias!

Die Behauptung, Kunst und Wissenschaft seien nie zugleich mit
Erfolg gepflegt worden, erweist sich aber als noch mehr hinfällig, sobald
sie unsere aufsteigende germanische Kultur betrifft. "Welcher Gelehrte
hat zu Leonardo's, zu Michelangelo's, zu Raffael's Zeiten gelebt, dessen
Werke denen jener Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden
könnten?" Wirklich, so ein armer Kunsthistoriker kann einem leid
thun! Gleich beim ersten Namen -- Leonardo -- ruft man aus: aber,
bester Mann, Leonardo selber! Wissenschaftliche Fachleute urteilen
über ihn: "Leonardo da Vinci muss als der hervorragendste Vorar-
beiter der galileischen Epoche der Entwickelung der induktiven Wissen-
schaften betrachtet werden."2) Ich hatte oft in diesem Buche Gelegenheit,

1) Demokrit kann man nur mit Kant vergleichen: die Weltgeschichte weiss von
keiner erstaunlicheren Geisteskraft zu melden. Wem das noch unbekannt, der schlage
den betreffenden Abschnitt in Zeller's Philosophie der Griechen (2. Abt. des 1. Bandes)
nach und ergänze das dort Gesagte durch die Darstellung in Lange's Geschichte des
Materialismus.
Demokrit ist der einzige Grieche, den man als echten Vorläufer
germanischer Weltanschauung betrachten kann; denn bei ihm -- und bei ihm
allein -- finden wir die rücksichtslos mathematisch-mechanische Deutung der Er-
scheinungswelt, verbunden mit dem Idealismus der inneren Erfahrung und mit
dem resoluten Abwehren jedweden Dogmatismus. Im Gegensatz zu dem albernen
"Mittelweg" des Aristoteles lehrt er, die Wahrheit liege in der Tiefe! Eine Er-
kenntnis der Dinge ihrer wirklichen Beschaffenheit nach sei, sagt er, unmöglich.
Seine Ethik ist ebenso bedeutend: die Sittlichkeit liegt für ihn ganz und gar im
Willen, nicht im Werke; er deutet auch schon auf Goethe's Ehrfurcht vor sich
selbst hin und weist Furcht und Hoffnung als moralische Triebfedern ab.
2) Hermann Grothe: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph, S. 93.
Dass der Verfasser in dieser selben Schrift, in welcher er ausserdem darzuthun
versucht hat, die wissenschaftlichen Kenntnisse seien zu Leonardo's Zeiten über-
haupt ausgedehnter und präziser als zwei Jahrhunderte später gewesen, dennoch
der kunsthistorischen Hegelei das Opfer bringt, zu schreiben: "Stets haben wir die
Erscheinung beobachten können, dass eine erhabene Kunstepoche der Blüte der
Wissenschaft vorangeht" -- ist wirklich ein non plus ultra. Nichts ist schwerer zu
entwurzeln, wie es scheint, als derartige Phrasen; derselbe Mann, der soeben in
einem hervorragenden Falle das Gegenteil bewiesen hat, plappert sie dennoch nach,
und entschuldigt die Abweichung von der vermeintlichen Regel mit einem "stets"

Kunst.
schaft nur wenig von bleibender Bedeutung geleistet, denn sie waren
allzu hastige, schlechte Beobachter; doch ragen zwei Namen hoch
empor, so dass sie noch heute jedem Kinde bekannt sind: Hippokrates,
der Begründer wissenschaftlicher Medizin, und Demokrit, der weitaus
bedeutendste aller hellenischen naturforschenden Denker, der einzige,
der heute noch weiterschaffend unter uns lebt;1) und beide sind —
Zeitgenossen des Phidias!

Die Behauptung, Kunst und Wissenschaft seien nie zugleich mit
Erfolg gepflegt worden, erweist sich aber als noch mehr hinfällig, sobald
sie unsere aufsteigende germanische Kultur betrifft. »Welcher Gelehrte
hat zu Leonardo’s, zu Michelangelo’s, zu Raffael’s Zeiten gelebt, dessen
Werke denen jener Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden
könnten?« Wirklich, so ein armer Kunsthistoriker kann einem leid
thun! Gleich beim ersten Namen — Leonardo — ruft man aus: aber,
bester Mann, Leonardo selber! Wissenschaftliche Fachleute urteilen
über ihn: »Leonardo da Vinci muss als der hervorragendste Vorar-
beiter der galileischen Epoche der Entwickelung der induktiven Wissen-
schaften betrachtet werden.«2) Ich hatte oft in diesem Buche Gelegenheit,

1) Demokrit kann man nur mit Kant vergleichen: die Weltgeschichte weiss von
keiner erstaunlicheren Geisteskraft zu melden. Wem das noch unbekannt, der schlage
den betreffenden Abschnitt in Zeller’s Philosophie der Griechen (2. Abt. des 1. Bandes)
nach und ergänze das dort Gesagte durch die Darstellung in Lange’s Geschichte des
Materialismus.
Demokrit ist der einzige Grieche, den man als echten Vorläufer
germanischer Weltanschauung betrachten kann; denn bei ihm — und bei ihm
allein — finden wir die rücksichtslos mathematisch-mechanische Deutung der Er-
scheinungswelt, verbunden mit dem Idealismus der inneren Erfahrung und mit
dem resoluten Abwehren jedweden Dogmatismus. Im Gegensatz zu dem albernen
»Mittelweg« des Aristoteles lehrt er, die Wahrheit liege in der Tiefe! Eine Er-
kenntnis der Dinge ihrer wirklichen Beschaffenheit nach sei, sagt er, unmöglich.
Seine Ethik ist ebenso bedeutend: die Sittlichkeit liegt für ihn ganz und gar im
Willen, nicht im Werke; er deutet auch schon auf Goethe’s Ehrfurcht vor sich
selbst hin und weist Furcht und Hoffnung als moralische Triebfedern ab.
2) Hermann Grothe: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph, S. 93.
Dass der Verfasser in dieser selben Schrift, in welcher er ausserdem darzuthun
versucht hat, die wissenschaftlichen Kenntnisse seien zu Leonardo’s Zeiten über-
haupt ausgedehnter und präziser als zwei Jahrhunderte später gewesen, dennoch
der kunsthistorischen Hegelei das Opfer bringt, zu schreiben: »Stets haben wir die
Erscheinung beobachten können, dass eine erhabene Kunstepoche der Blüte der
Wissenschaft vorangeht« — ist wirklich ein non plus ultra. Nichts ist schwerer zu
entwurzeln, wie es scheint, als derartige Phrasen; derselbe Mann, der soeben in
einem hervorragenden Falle das Gegenteil bewiesen hat, plappert sie dennoch nach,
und entschuldigt die Abweichung von der vermeintlichen Regel mit einem »stets«
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[965/0444] Kunst. schaft nur wenig von bleibender Bedeutung geleistet, denn sie waren allzu hastige, schlechte Beobachter; doch ragen zwei Namen hoch empor, so dass sie noch heute jedem Kinde bekannt sind: Hippokrates, der Begründer wissenschaftlicher Medizin, und Demokrit, der weitaus bedeutendste aller hellenischen naturforschenden Denker, der einzige, der heute noch weiterschaffend unter uns lebt; 1) und beide sind — Zeitgenossen des Phidias! Die Behauptung, Kunst und Wissenschaft seien nie zugleich mit Erfolg gepflegt worden, erweist sich aber als noch mehr hinfällig, sobald sie unsere aufsteigende germanische Kultur betrifft. »Welcher Gelehrte hat zu Leonardo’s, zu Michelangelo’s, zu Raffael’s Zeiten gelebt, dessen Werke denen jener Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden könnten?« Wirklich, so ein armer Kunsthistoriker kann einem leid thun! Gleich beim ersten Namen — Leonardo — ruft man aus: aber, bester Mann, Leonardo selber! Wissenschaftliche Fachleute urteilen über ihn: »Leonardo da Vinci muss als der hervorragendste Vorar- beiter der galileischen Epoche der Entwickelung der induktiven Wissen- schaften betrachtet werden.« 2) Ich hatte oft in diesem Buche Gelegenheit, 1) Demokrit kann man nur mit Kant vergleichen: die Weltgeschichte weiss von keiner erstaunlicheren Geisteskraft zu melden. Wem das noch unbekannt, der schlage den betreffenden Abschnitt in Zeller’s Philosophie der Griechen (2. Abt. des 1. Bandes) nach und ergänze das dort Gesagte durch die Darstellung in Lange’s Geschichte des Materialismus. Demokrit ist der einzige Grieche, den man als echten Vorläufer germanischer Weltanschauung betrachten kann; denn bei ihm — und bei ihm allein — finden wir die rücksichtslos mathematisch-mechanische Deutung der Er- scheinungswelt, verbunden mit dem Idealismus der inneren Erfahrung und mit dem resoluten Abwehren jedweden Dogmatismus. Im Gegensatz zu dem albernen »Mittelweg« des Aristoteles lehrt er, die Wahrheit liege in der Tiefe! Eine Er- kenntnis der Dinge ihrer wirklichen Beschaffenheit nach sei, sagt er, unmöglich. Seine Ethik ist ebenso bedeutend: die Sittlichkeit liegt für ihn ganz und gar im Willen, nicht im Werke; er deutet auch schon auf Goethe’s Ehrfurcht vor sich selbst hin und weist Furcht und Hoffnung als moralische Triebfedern ab. 2) Hermann Grothe: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph, S. 93. Dass der Verfasser in dieser selben Schrift, in welcher er ausserdem darzuthun versucht hat, die wissenschaftlichen Kenntnisse seien zu Leonardo’s Zeiten über- haupt ausgedehnter und präziser als zwei Jahrhunderte später gewesen, dennoch der kunsthistorischen Hegelei das Opfer bringt, zu schreiben: »Stets haben wir die Erscheinung beobachten können, dass eine erhabene Kunstepoche der Blüte der Wissenschaft vorangeht« — ist wirklich ein non plus ultra. Nichts ist schwerer zu entwurzeln, wie es scheint, als derartige Phrasen; derselbe Mann, der soeben in einem hervorragenden Falle das Gegenteil bewiesen hat, plappert sie dennoch nach, und entschuldigt die Abweichung von der vermeintlichen Regel mit einem »stets«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 965. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/444>, abgerufen am 23.11.2024.