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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Wie ich S. 70 hervorhob, Persönlichkeiten können nur in einer Um-
gebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Kunst
des Genies setzt weitverbreitete künstlerische Genialität voraus; in
schöpferischen Werken der Kunst kommt, wie Richard Wagner be-
merkt hat, "eine gemeinsame, in unendlich mannigfache und vielfältige
Individualitäten gegliederte Kraft" zur Erscheinung.1) Eine so weit-
verbreitete Genialität, wie sie die Griechen bis in späte Zeiten be-
kundeten, eine Genialität, die lange nach Aristoteles den Gigantenfries
und die Laokoongruppe hervorbrachte, kann sich neben der Wissen-
schaft -- namentlich neben der durchaus unheroischen Wissenschaft
jener späten Periode! -- recht wohl sehen lassen. Doch will ich
hierauf nicht weiter bestehen, sondern den Standpunkt der Kunst-
historiker vorderhand zu dem meinigen machen und das Zeitalter des
Perikles als den Höhepunkt der Kunst betrachten. Wie könnte ich
mich aber der Erkenntnis verschliessen, dass dann die "heroische Zeit"
der Wissenschaft auf genau denselben Augenblick fällt? Wie man in
diesem Zusammenhang auf Aristoteles kommt, ist nämlich unerfindlich.
Dieser grosse Mann hat auch die Wissenschaft seiner Zeit, wie alles
andere, zusammengefasst, gesichtet, geordnet, schematisiert; doch ist
seine persönliche Wissenschaft nichts weniger als heroisch, eher das
Gegenteil, nämlich ausgesprochen geheimrätlich, um nicht zu sagen
pfäffisch. Dagegen treten schon über ein Jahrhundert vor der Geburt
des Phidias alle hellenische Denker als fachmännisch gebildete Mathe-
matiker und Astronomen auf, und wirklich "heroisch" wird die Wissen-
schaft durch den spätestens 80 Jahre vor Phidias geborenen Pythagoras.
Ich verweise auf das S. 84 fg. nur Angedeutete. Wie genial die
Pythagoreische Astronomie war, wie emsig und erfolgreich die Griechen
bis zur alexandrinischen Zeit hinunter, und zwar ohne Unterbrechung,
Mathematik und Astrophysik betrieben, wie abseits Aristoteles von
dieser einzig echt naturwissenschaftlichen Bewegung stand, ist heute
allbekannt: wie kann man es zu Gunsten einer Konstruktion übersehen?
Von Thales, der 100 Jahre vor Phidias Sonnenfinsternisse voraus-
berechnet, bis zu Aristarchos, dem 100 Jahre nach Aristoteles geborenen
Vorläufer des Kopernikus -- d. h. so lange griechisches Geistesleben
überhaupt blühte, vom Anfang bis zum Ende -- sehen wir die be-
sondere hellenische Anlage für die Wissenschaft des Raumes am
Werke. Abgesehen hiervon haben die Griechen überhaupt in Wissen-

1) Eine Mitteilung an meine Freunde (Ges. Schriften, 1. Ausg., IV., 309).

Die Entstehung einer neuen Welt.
Wie ich S. 70 hervorhob, Persönlichkeiten können nur in einer Um-
gebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Kunst
des Genies setzt weitverbreitete künstlerische Genialität voraus; in
schöpferischen Werken der Kunst kommt, wie Richard Wagner be-
merkt hat, »eine gemeinsame, in unendlich mannigfache und vielfältige
Individualitäten gegliederte Kraft« zur Erscheinung.1) Eine so weit-
verbreitete Genialität, wie sie die Griechen bis in späte Zeiten be-
kundeten, eine Genialität, die lange nach Aristoteles den Gigantenfries
und die Laokoongruppe hervorbrachte, kann sich neben der Wissen-
schaft — namentlich neben der durchaus unheroischen Wissenschaft
jener späten Periode! — recht wohl sehen lassen. Doch will ich
hierauf nicht weiter bestehen, sondern den Standpunkt der Kunst-
historiker vorderhand zu dem meinigen machen und das Zeitalter des
Perikles als den Höhepunkt der Kunst betrachten. Wie könnte ich
mich aber der Erkenntnis verschliessen, dass dann die »heroische Zeit«
der Wissenschaft auf genau denselben Augenblick fällt? Wie man in
diesem Zusammenhang auf Aristoteles kommt, ist nämlich unerfindlich.
Dieser grosse Mann hat auch die Wissenschaft seiner Zeit, wie alles
andere, zusammengefasst, gesichtet, geordnet, schematisiert; doch ist
seine persönliche Wissenschaft nichts weniger als heroisch, eher das
Gegenteil, nämlich ausgesprochen geheimrätlich, um nicht zu sagen
pfäffisch. Dagegen treten schon über ein Jahrhundert vor der Geburt
des Phidias alle hellenische Denker als fachmännisch gebildete Mathe-
matiker und Astronomen auf, und wirklich »heroisch« wird die Wissen-
schaft durch den spätestens 80 Jahre vor Phidias geborenen Pythagoras.
Ich verweise auf das S. 84 fg. nur Angedeutete. Wie genial die
Pythagoreische Astronomie war, wie emsig und erfolgreich die Griechen
bis zur alexandrinischen Zeit hinunter, und zwar ohne Unterbrechung,
Mathematik und Astrophysik betrieben, wie abseits Aristoteles von
dieser einzig echt naturwissenschaftlichen Bewegung stand, ist heute
allbekannt: wie kann man es zu Gunsten einer Konstruktion übersehen?
Von Thales, der 100 Jahre vor Phidias Sonnenfinsternisse voraus-
berechnet, bis zu Aristarchos, dem 100 Jahre nach Aristoteles geborenen
Vorläufer des Kopernikus — d. h. so lange griechisches Geistesleben
überhaupt blühte, vom Anfang bis zum Ende — sehen wir die be-
sondere hellenische Anlage für die Wissenschaft des Raumes am
Werke. Abgesehen hiervon haben die Griechen überhaupt in Wissen-

1) Eine Mitteilung an meine Freunde (Ges. Schriften, 1. Ausg., IV., 309).
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[964/0443] Die Entstehung einer neuen Welt. Wie ich S. 70 hervorhob, Persönlichkeiten können nur in einer Um- gebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Kunst des Genies setzt weitverbreitete künstlerische Genialität voraus; in schöpferischen Werken der Kunst kommt, wie Richard Wagner be- merkt hat, »eine gemeinsame, in unendlich mannigfache und vielfältige Individualitäten gegliederte Kraft« zur Erscheinung. 1) Eine so weit- verbreitete Genialität, wie sie die Griechen bis in späte Zeiten be- kundeten, eine Genialität, die lange nach Aristoteles den Gigantenfries und die Laokoongruppe hervorbrachte, kann sich neben der Wissen- schaft — namentlich neben der durchaus unheroischen Wissenschaft jener späten Periode! — recht wohl sehen lassen. Doch will ich hierauf nicht weiter bestehen, sondern den Standpunkt der Kunst- historiker vorderhand zu dem meinigen machen und das Zeitalter des Perikles als den Höhepunkt der Kunst betrachten. Wie könnte ich mich aber der Erkenntnis verschliessen, dass dann die »heroische Zeit« der Wissenschaft auf genau denselben Augenblick fällt? Wie man in diesem Zusammenhang auf Aristoteles kommt, ist nämlich unerfindlich. Dieser grosse Mann hat auch die Wissenschaft seiner Zeit, wie alles andere, zusammengefasst, gesichtet, geordnet, schematisiert; doch ist seine persönliche Wissenschaft nichts weniger als heroisch, eher das Gegenteil, nämlich ausgesprochen geheimrätlich, um nicht zu sagen pfäffisch. Dagegen treten schon über ein Jahrhundert vor der Geburt des Phidias alle hellenische Denker als fachmännisch gebildete Mathe- matiker und Astronomen auf, und wirklich »heroisch« wird die Wissen- schaft durch den spätestens 80 Jahre vor Phidias geborenen Pythagoras. Ich verweise auf das S. 84 fg. nur Angedeutete. Wie genial die Pythagoreische Astronomie war, wie emsig und erfolgreich die Griechen bis zur alexandrinischen Zeit hinunter, und zwar ohne Unterbrechung, Mathematik und Astrophysik betrieben, wie abseits Aristoteles von dieser einzig echt naturwissenschaftlichen Bewegung stand, ist heute allbekannt: wie kann man es zu Gunsten einer Konstruktion übersehen? Von Thales, der 100 Jahre vor Phidias Sonnenfinsternisse voraus- berechnet, bis zu Aristarchos, dem 100 Jahre nach Aristoteles geborenen Vorläufer des Kopernikus — d. h. so lange griechisches Geistesleben überhaupt blühte, vom Anfang bis zum Ende — sehen wir die be- sondere hellenische Anlage für die Wissenschaft des Raumes am Werke. Abgesehen hiervon haben die Griechen überhaupt in Wissen- 1) Eine Mitteilung an meine Freunde (Ges. Schriften, 1. Ausg., IV., 309).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 964. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/443>, abgerufen am 23.11.2024.