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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
einflusste Beobachter, dass solche Männer wie Thomas ihrer eigenen Natur
Gewalt anthun. Ich behaupte nicht, dass sie bewusst und absichtlich lügen
(wenn das auch bei Männern geringeren Kalibers oft genug der Fall war
und ist); fasciniert aber durch das hohe (und für ein edles bethörtes Herz
geradezu heilige) Ideal des römischen Wahnes, unterliegen sie der
Suggestion und stürzen sich in jene Weltauffassung hinein, die ihre
Persönlichkeit und ihre Würde vernichtet, wie der beflügelte Sänger sich
in den Schlangenrachen stürzt. Darum nenne ich diesen Weg den
der Unwahrhaftigkeit. Denn wer ihn geht, opfert das, was er von
Gott empfing, sein eigenes Selbst; und wahrlich, dies ist nichts Ge-
ringes; Meister Eckhart, ein guter und gelehrter Katholik, ein Pro-
vinzial des Dominikanerordens, belehrt uns, der Mensch solle "got
auzer sich selber nicht ensuoche";1) wer seine Persönlichkeit opfert,
verliert also zugleich den Gott, den er einzig in sich selber hätte
finden können. Wer dagegen bei seiner Weltanschauung seine Per-
sönlichkeit nicht opfert, wandelt offenbar die genau entgegengesetzte
Richtung, gleichviel zu welcher Art der Auffassung sein Charakter
ihn auch treiben mag, und gleichviel ob er sich zur katholischen oder
zu einer anderen Kirche bekennt. Ein Duns Scotus z. B. ist ein
geradezu fanatischer Pfaffe, den spezifisch römischen Lehren, z. B. der
Werkheiligkeit ganz ergeben, hundertmal unduldsamer und einseitiger
als Thomas von Aquin; dennoch weht uns aus jedem seiner Worte
die Atmosphäre der Wahrhaftigkeit und der autonomen Persönlichkeit
entgegen. Mit Verachtung und heiligem Zorn deckt dieser doctor
subtilis,
der grösste Dialektiker der Kirche, das ganze Gewebe erbärm-
licher Trugschlüsse auf, aus denen Thomas sein künstliches System
aufgebaut hat: es ist nicht wahr, dass die Dogmen der christlichen
Kirche vor der Vernunft bestehen, viel weniger, dass sie (wie Thomas
gelehrt hatte) von der Vernunft als notwendige Wahrheiten bewiesen
werden können; schon die angeblichen Beweise für das Dasein Gottes
und die Unsterblichkeit der Seele sind elende Sophistereien (siehe die
Quaestiones subtilissimae); nicht der Syllogismus hat Wert für die
Religion, sondern einzig der Glaube; nicht der Verstand bildet den
Kern der menschlichen Natur, sondern der Wille: voluntas superior
intellectu!
Mochte Duns Scotus persönlich noch so kirchlich unduldsam

1) Ausgabe von Pfeiffer, 1857, S. 626. Das hier negativ Vorgebrachte wird
im 53. Spruche, von den sieben Graden des schauenden Lebens, als positive Lehre
ausgesprochen: "Unde so der Mensch also in sich selber gat, so vindet er got in
ime selber."

Die Entstehung einer neuen Welt.
einflusste Beobachter, dass solche Männer wie Thomas ihrer eigenen Natur
Gewalt anthun. Ich behaupte nicht, dass sie bewusst und absichtlich lügen
(wenn das auch bei Männern geringeren Kalibers oft genug der Fall war
und ist); fasciniert aber durch das hohe (und für ein edles bethörtes Herz
geradezu heilige) Ideal des römischen Wahnes, unterliegen sie der
Suggestion und stürzen sich in jene Weltauffassung hinein, die ihre
Persönlichkeit und ihre Würde vernichtet, wie der beflügelte Sänger sich
in den Schlangenrachen stürzt. Darum nenne ich diesen Weg den
der Unwahrhaftigkeit. Denn wer ihn geht, opfert das, was er von
Gott empfing, sein eigenes Selbst; und wahrlich, dies ist nichts Ge-
ringes; Meister Eckhart, ein guter und gelehrter Katholik, ein Pro-
vinzial des Dominikanerordens, belehrt uns, der Mensch solle »got
ûzer sich selber nicht ensuoche«;1) wer seine Persönlichkeit opfert,
verliert also zugleich den Gott, den er einzig in sich selber hätte
finden können. Wer dagegen bei seiner Weltanschauung seine Per-
sönlichkeit nicht opfert, wandelt offenbar die genau entgegengesetzte
Richtung, gleichviel zu welcher Art der Auffassung sein Charakter
ihn auch treiben mag, und gleichviel ob er sich zur katholischen oder
zu einer anderen Kirche bekennt. Ein Duns Scotus z. B. ist ein
geradezu fanatischer Pfaffe, den spezifisch römischen Lehren, z. B. der
Werkheiligkeit ganz ergeben, hundertmal unduldsamer und einseitiger
als Thomas von Aquin; dennoch weht uns aus jedem seiner Worte
die Atmosphäre der Wahrhaftigkeit und der autonomen Persönlichkeit
entgegen. Mit Verachtung und heiligem Zorn deckt dieser doctor
subtilis,
der grösste Dialektiker der Kirche, das ganze Gewebe erbärm-
licher Trugschlüsse auf, aus denen Thomas sein künstliches System
aufgebaut hat: es ist nicht wahr, dass die Dogmen der christlichen
Kirche vor der Vernunft bestehen, viel weniger, dass sie (wie Thomas
gelehrt hatte) von der Vernunft als notwendige Wahrheiten bewiesen
werden können; schon die angeblichen Beweise für das Dasein Gottes
und die Unsterblichkeit der Seele sind elende Sophistereien (siehe die
Quaestiones subtilissimae); nicht der Syllogismus hat Wert für die
Religion, sondern einzig der Glaube; nicht der Verstand bildet den
Kern der menschlichen Natur, sondern der Wille: voluntas superior
intellectu!
Mochte Duns Scotus persönlich noch so kirchlich unduldsam

1) Ausgabe von Pfeiffer, 1857, S. 626. Das hier negativ Vorgebrachte wird
im 53. Spruche, von den sieben Graden des schauenden Lebens, als positive Lehre
ausgesprochen: »Unde sô der Mensch alsô in sich selber gât, sô vindet er got in
ime selber.«
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[868/0347] Die Entstehung einer neuen Welt. einflusste Beobachter, dass solche Männer wie Thomas ihrer eigenen Natur Gewalt anthun. Ich behaupte nicht, dass sie bewusst und absichtlich lügen (wenn das auch bei Männern geringeren Kalibers oft genug der Fall war und ist); fasciniert aber durch das hohe (und für ein edles bethörtes Herz geradezu heilige) Ideal des römischen Wahnes, unterliegen sie der Suggestion und stürzen sich in jene Weltauffassung hinein, die ihre Persönlichkeit und ihre Würde vernichtet, wie der beflügelte Sänger sich in den Schlangenrachen stürzt. Darum nenne ich diesen Weg den der Unwahrhaftigkeit. Denn wer ihn geht, opfert das, was er von Gott empfing, sein eigenes Selbst; und wahrlich, dies ist nichts Ge- ringes; Meister Eckhart, ein guter und gelehrter Katholik, ein Pro- vinzial des Dominikanerordens, belehrt uns, der Mensch solle »got ûzer sich selber nicht ensuoche«; 1) wer seine Persönlichkeit opfert, verliert also zugleich den Gott, den er einzig in sich selber hätte finden können. Wer dagegen bei seiner Weltanschauung seine Per- sönlichkeit nicht opfert, wandelt offenbar die genau entgegengesetzte Richtung, gleichviel zu welcher Art der Auffassung sein Charakter ihn auch treiben mag, und gleichviel ob er sich zur katholischen oder zu einer anderen Kirche bekennt. Ein Duns Scotus z. B. ist ein geradezu fanatischer Pfaffe, den spezifisch römischen Lehren, z. B. der Werkheiligkeit ganz ergeben, hundertmal unduldsamer und einseitiger als Thomas von Aquin; dennoch weht uns aus jedem seiner Worte die Atmosphäre der Wahrhaftigkeit und der autonomen Persönlichkeit entgegen. Mit Verachtung und heiligem Zorn deckt dieser doctor subtilis, der grösste Dialektiker der Kirche, das ganze Gewebe erbärm- licher Trugschlüsse auf, aus denen Thomas sein künstliches System aufgebaut hat: es ist nicht wahr, dass die Dogmen der christlichen Kirche vor der Vernunft bestehen, viel weniger, dass sie (wie Thomas gelehrt hatte) von der Vernunft als notwendige Wahrheiten bewiesen werden können; schon die angeblichen Beweise für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sind elende Sophistereien (siehe die Quaestiones subtilissimae); nicht der Syllogismus hat Wert für die Religion, sondern einzig der Glaube; nicht der Verstand bildet den Kern der menschlichen Natur, sondern der Wille: voluntas superior intellectu! Mochte Duns Scotus persönlich noch so kirchlich unduldsam 1) Ausgabe von Pfeiffer, 1857, S. 626. Das hier negativ Vorgebrachte wird im 53. Spruche, von den sieben Graden des schauenden Lebens, als positive Lehre ausgesprochen: »Unde sô der Mensch alsô in sich selber gât, sô vindet er got in ime selber.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 868. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/347>, abgerufen am 25.11.2024.