Die Reformation ist der Mittelpunkt der politischen Entwickelung Europa's von 1200 bis 1800; sie hat für die Politik eine ähnliche Be- deutung wie sie die Einführung des Beichtzwanges durch die Synode des Jahres 1215 für die Religion gehabt hat. Durch die Beichte (nicht allein der grossen, öffentlich bekannten und gebüssten Sünden, wie bisher, sondern der täglichen, dem Priester im Geheimen anvertrauten Vergehen) war der römischen Religion eine doppelte -- sie vom Evan- gelium Christi immer weiter entfernende -- Richtung unabweisbar aufgezwungen: einerseits zur immer unbedingteren Priesterherrschaft, andererseits zur immer grösseren Abschwächung des inneren religiösen Momentes; kaum fünfzig Jahre nach dieser vatikanischen Synode, und schon wurde gelehrt: zum Sakramente der Busse bedürfe es nicht der Herzensreue (contritio), es genüge die Furcht vor der Hölle (attritio). Die Religion war nunmehr vollkommen veräusserlicht, der Einzelne dem Priester bedingungslos ausgeliefert. Der Beichtzwang bedeutet das vollkommene Opfer der Person. Hiergegen regten sich die Ge- wissen ernster Menschen in ganz Europa. Doch erst die Reformations- thätigkeit Luther's hat jene religiöse Gährung, die schon Jahrhunderte die Christenheit durchdrang,1) zu einer politischen Macht umgestaltet, und zwar dadurch, dass sie die vielen religiösen Fragen zu einer kirch- lichen Frage umwandelte. Hierdurch erst ward es möglich, einen entscheidenden Schritt zur Befreiung zu thun. Luther ist vor Allem ein politischer Held; um ihn gerecht zu beurteilen, um seine über- ragende Stellung in der Geschichte Europa's zu begreifen, muss man das wissen. Darum jene merkwürdigen, vielbedeutenden Worte: "Nun, meine lieben Fürsten und Herren, ihr eilet fast mit mir armen einigen Menschen zum Tode; und wenn das geschehen ist, so werdet ihr gewonnen haben. Wenn ihr aber Ohren hättet, die da höreten, ich wollte euch etwas Seltsames sagen. Wie, wenn des Luther's Leben so viel vor Gott gülte, dass, wo er nicht lebete, euer Keiner seines Lebens oder Herrschaft sicher wäre, und dass sein Tod eurer Aller Unglück sein würde?" Welch ein politischer Scharf blick! Denn, dass die Fürsten, die sich nicht unbedingt Rom unterwarfen, ihres Lebens nicht sicher waren, hat die Folge häufig bestätigt; dass die anderen aber eine unabhängige Herrschaft nach römischer Lehre nicht besassen, noch jemals besitzen konnten, ist im achten Kapitel an der Hand nicht allein zahlreicher päpstlicher Bullen, sondern der
1) Siehe S. 613 fg.
Die Entstehung einer neuen Welt.
Martin Luther.
Die Reformation ist der Mittelpunkt der politischen Entwickelung Europa’s von 1200 bis 1800; sie hat für die Politik eine ähnliche Be- deutung wie sie die Einführung des Beichtzwanges durch die Synode des Jahres 1215 für die Religion gehabt hat. Durch die Beichte (nicht allein der grossen, öffentlich bekannten und gebüssten Sünden, wie bisher, sondern der täglichen, dem Priester im Geheimen anvertrauten Vergehen) war der römischen Religion eine doppelte — sie vom Evan- gelium Christi immer weiter entfernende — Richtung unabweisbar aufgezwungen: einerseits zur immer unbedingteren Priesterherrschaft, andererseits zur immer grösseren Abschwächung des inneren religiösen Momentes; kaum fünfzig Jahre nach dieser vatikanischen Synode, und schon wurde gelehrt: zum Sakramente der Busse bedürfe es nicht der Herzensreue (contritio), es genüge die Furcht vor der Hölle (attritio). Die Religion war nunmehr vollkommen veräusserlicht, der Einzelne dem Priester bedingungslos ausgeliefert. Der Beichtzwang bedeutet das vollkommene Opfer der Person. Hiergegen regten sich die Ge- wissen ernster Menschen in ganz Europa. Doch erst die Reformations- thätigkeit Luther’s hat jene religiöse Gährung, die schon Jahrhunderte die Christenheit durchdrang,1) zu einer politischen Macht umgestaltet, und zwar dadurch, dass sie die vielen religiösen Fragen zu einer kirch- lichen Frage umwandelte. Hierdurch erst ward es möglich, einen entscheidenden Schritt zur Befreiung zu thun. Luther ist vor Allem ein politischer Held; um ihn gerecht zu beurteilen, um seine über- ragende Stellung in der Geschichte Europa’s zu begreifen, muss man das wissen. Darum jene merkwürdigen, vielbedeutenden Worte: »Nun, meine lieben Fürsten und Herren, ihr eilet fast mit mir armen einigen Menschen zum Tode; und wenn das geschehen ist, so werdet ihr gewonnen haben. Wenn ihr aber Ohren hättet, die da höreten, ich wollte euch etwas Seltsames sagen. Wie, wenn des Luther’s Leben so viel vor Gott gülte, dass, wo er nicht lebete, euer Keiner seines Lebens oder Herrschaft sicher wäre, und dass sein Tod eurer Aller Unglück sein würde?« Welch ein politischer Scharf blick! Denn, dass die Fürsten, die sich nicht unbedingt Rom unterwarfen, ihres Lebens nicht sicher waren, hat die Folge häufig bestätigt; dass die anderen aber eine unabhängige Herrschaft nach römischer Lehre nicht besassen, noch jemals besitzen konnten, ist im achten Kapitel an der Hand nicht allein zahlreicher päpstlicher Bullen, sondern der
1) Siehe S. 613 fg.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
Die Reformation ist der Mittelpunkt der politischen Entwickelung
Europa’s von 1200 bis 1800; sie hat für die Politik eine ähnliche Be-
deutung wie sie die Einführung des Beichtzwanges durch die Synode
des Jahres 1215 für die Religion gehabt hat. Durch die Beichte (nicht
allein der grossen, öffentlich bekannten und gebüssten Sünden, wie
bisher, sondern der täglichen, dem Priester im Geheimen anvertrauten
Vergehen) war der römischen Religion eine doppelte — sie vom Evan-
gelium Christi immer weiter entfernende — Richtung unabweisbar
aufgezwungen: einerseits zur immer unbedingteren Priesterherrschaft,
andererseits zur immer grösseren Abschwächung des inneren religiösen
Momentes; kaum fünfzig Jahre nach dieser vatikanischen Synode, und
schon wurde gelehrt: zum Sakramente der Busse bedürfe es nicht der
Herzensreue (contritio), es genüge die Furcht vor der Hölle (attritio).
Die Religion war nunmehr vollkommen veräusserlicht, der Einzelne
dem Priester bedingungslos ausgeliefert. Der Beichtzwang bedeutet
das vollkommene Opfer der Person. Hiergegen regten sich die Ge-
wissen ernster Menschen in ganz Europa. Doch erst die Reformations-
thätigkeit Luther’s hat jene religiöse Gährung, die schon Jahrhunderte
die Christenheit durchdrang, 1) zu einer politischen Macht umgestaltet,
und zwar dadurch, dass sie die vielen religiösen Fragen zu einer kirch-
lichen Frage umwandelte. Hierdurch erst ward es möglich, einen
entscheidenden Schritt zur Befreiung zu thun. Luther ist vor Allem
ein politischer Held; um ihn gerecht zu beurteilen, um seine über-
ragende Stellung in der Geschichte Europa’s zu begreifen, muss man
das wissen. Darum jene merkwürdigen, vielbedeutenden Worte: »Nun,
meine lieben Fürsten und Herren, ihr eilet fast mit mir armen einigen
Menschen zum Tode; und wenn das geschehen ist, so werdet ihr
gewonnen haben. Wenn ihr aber Ohren hättet, die da höreten, ich
wollte euch etwas Seltsames sagen. Wie, wenn des Luther’s Leben
so viel vor Gott gülte, dass, wo er nicht lebete, euer Keiner
seines Lebens oder Herrschaft sicher wäre, und dass sein Tod
eurer Aller Unglück sein würde?« Welch ein politischer Scharf blick!
Denn, dass die Fürsten, die sich nicht unbedingt Rom unterwarfen,
ihres Lebens nicht sicher waren, hat die Folge häufig bestätigt; dass
die anderen aber eine unabhängige Herrschaft nach römischer Lehre
nicht besassen, noch jemals besitzen konnten, ist im achten Kapitel
an der Hand nicht allein zahlreicher päpstlicher Bullen, sondern der
1) Siehe S. 613 fg.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 840. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/319>, abgerufen am 22.11.2024.
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