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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Denken und Urteilen durch künstliche Zeiteinteilungen befangen zu
lassen. Das Gesagte gilt aber nicht allein von der durch den Dampf
bewirkten Umgestaltung -- sowie natürlich in noch höherem Grade
von der Elektricität, zu deren industrieller Verwertung es vor hundert
Jahren nicht einmal Ansätze gab -- sondern ebenfalls von dem
Gebiete jener grossen, ausschlaggebenden Industrien, welche die Be-
kleidung der Menschen besorgen, und in Folge dessen auf diesem
Felde etwa das bedeuten, was in der Agrikultur der Bau des Kornes.
Die Methoden des Spinnens, des Webens und des Nähens haben eine
völlige Umwandlung erlitten, deren entscheidende Schritte ebenfalls erst
am Schluss des vorigen Jahrhunderts beginnen. Hargreaves patentiert
seine Spinnmaschine 1770, Arkwright die seinige fast im selben Augen-
blicke, der grosse Idealist George Crompton schenkt der Welt die voll-
kommene Spinnmaschine (die sogenannte Mule) etwa zehn Jahre später;
Jacquard's Webstuhl ward erst 1801 fertiggestellt; die erste praktisch
brauchbare Nähmaschine (diejenige Thimonnier's) liess -- trotz Ver-
suchen, die am Schlusse des 18. Jahrhunderts begannen -- noch volle
dreissig Jahre länger auf sich warten.1) Auch hier fehlt es natürlich
nicht an vorangegangenen Ideen und Versuchen, und zwar treffen wir
wieder in erster Reihe auf den grossen Leonardo, der eine Spinn-
maschine erfand, welche die ruhmreichsten Einfälle der späteren Zeit
schon alle enthielt, so dass sie "unseren heutigen Spindelkonstruktionen
vollkommen ebenbürtig gegenübersteht", und der sich ausserdem mit
der Konstruktion von Webstühlen, Tuchschermaschinen u. s. w. ab-
gab.2) Doch blieb dies alles auf unsere Zeit einflusslos und gehört
folglich nicht hierher. Und noch eine Thatsahe darf nicht unbeachtet
bleiben: dass nämlich noch heute auf einem überwiegend grossen Teil
der Welt gesponnen und gewoben wird, wie vor Jahrhunderten; gerade
in diesen Dingen ist der Mensch zäh konservativ;3) nimmt er aber

1) Eine wirklich praktische, umfassende Geschichte der Industrie habe ich
in keiner Sprache ausfindig machen können; man muss aus fünfzig verschiedenen
Specialschriften die Daten mühsam zusammensuchen und kann froh sein, wenn
man überhaupt etwas findet, denn die Industriellen leben ganz in der Gegenwart
und kümmern sich blutwenig um Geschichte. Für den zuletzt erwähnten Gegen-
stand vergleiche man jedoch Hermann Grothe: Bilder und Studien zur Geschichte
vom Spinnen, Weben, Nähen
(1875).
2) Grothe: a. a. O., S. 21 und für Ausführlicheres, Grothe: Leonardo da Vinci
als Ingenieur,
1874, S. 80 fg. Leonardo war überhaupt unerschöpflich in der Erfindung
von Mechanismen, wovon man sich in dem zuletzt genannten Werke überzeugen kann.
3) Grothe: Bilder und Studien, S. 27.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Denken und Urteilen durch künstliche Zeiteinteilungen befangen zu
lassen. Das Gesagte gilt aber nicht allein von der durch den Dampf
bewirkten Umgestaltung — sowie natürlich in noch höherem Grade
von der Elektricität, zu deren industrieller Verwertung es vor hundert
Jahren nicht einmal Ansätze gab — sondern ebenfalls von dem
Gebiete jener grossen, ausschlaggebenden Industrien, welche die Be-
kleidung der Menschen besorgen, und in Folge dessen auf diesem
Felde etwa das bedeuten, was in der Agrikultur der Bau des Kornes.
Die Methoden des Spinnens, des Webens und des Nähens haben eine
völlige Umwandlung erlitten, deren entscheidende Schritte ebenfalls erst
am Schluss des vorigen Jahrhunderts beginnen. Hargreaves patentiert
seine Spinnmaschine 1770, Arkwright die seinige fast im selben Augen-
blicke, der grosse Idealist George Crompton schenkt der Welt die voll-
kommene Spinnmaschine (die sogenannte Mule) etwa zehn Jahre später;
Jacquard’s Webstuhl ward erst 1801 fertiggestellt; die erste praktisch
brauchbare Nähmaschine (diejenige Thimonnier’s) liess — trotz Ver-
suchen, die am Schlusse des 18. Jahrhunderts begannen — noch volle
dreissig Jahre länger auf sich warten.1) Auch hier fehlt es natürlich
nicht an vorangegangenen Ideen und Versuchen, und zwar treffen wir
wieder in erster Reihe auf den grossen Leonardo, der eine Spinn-
maschine erfand, welche die ruhmreichsten Einfälle der späteren Zeit
schon alle enthielt, so dass sie »unseren heutigen Spindelkonstruktionen
vollkommen ebenbürtig gegenübersteht«, und der sich ausserdem mit
der Konstruktion von Webstühlen, Tuchschermaschinen u. s. w. ab-
gab.2) Doch blieb dies alles auf unsere Zeit einflusslos und gehört
folglich nicht hierher. Und noch eine Thatsahe darf nicht unbeachtet
bleiben: dass nämlich noch heute auf einem überwiegend grossen Teil
der Welt gesponnen und gewoben wird, wie vor Jahrhunderten; gerade
in diesen Dingen ist der Mensch zäh konservativ;3) nimmt er aber

1) Eine wirklich praktische, umfassende Geschichte der Industrie habe ich
in keiner Sprache ausfindig machen können; man muss aus fünfzig verschiedenen
Specialschriften die Daten mühsam zusammensuchen und kann froh sein, wenn
man überhaupt etwas findet, denn die Industriellen leben ganz in der Gegenwart
und kümmern sich blutwenig um Geschichte. Für den zuletzt erwähnten Gegen-
stand vergleiche man jedoch Hermann Grothe: Bilder und Studien zur Geschichte
vom Spinnen, Weben, Nähen
(1875).
2) Grothe: a. a. O., S. 21 und für Ausführlicheres, Grothe: Leonardo da Vinci
als Ingenieur,
1874, S. 80 fg. Leonardo war überhaupt unerschöpflich in der Erfindung
von Mechanismen, wovon man sich in dem zuletzt genannten Werke überzeugen kann.
3) Grothe: Bilder und Studien, S. 27.
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[814/0293] Die Entstehung einer neuen Welt. Denken und Urteilen durch künstliche Zeiteinteilungen befangen zu lassen. Das Gesagte gilt aber nicht allein von der durch den Dampf bewirkten Umgestaltung — sowie natürlich in noch höherem Grade von der Elektricität, zu deren industrieller Verwertung es vor hundert Jahren nicht einmal Ansätze gab — sondern ebenfalls von dem Gebiete jener grossen, ausschlaggebenden Industrien, welche die Be- kleidung der Menschen besorgen, und in Folge dessen auf diesem Felde etwa das bedeuten, was in der Agrikultur der Bau des Kornes. Die Methoden des Spinnens, des Webens und des Nähens haben eine völlige Umwandlung erlitten, deren entscheidende Schritte ebenfalls erst am Schluss des vorigen Jahrhunderts beginnen. Hargreaves patentiert seine Spinnmaschine 1770, Arkwright die seinige fast im selben Augen- blicke, der grosse Idealist George Crompton schenkt der Welt die voll- kommene Spinnmaschine (die sogenannte Mule) etwa zehn Jahre später; Jacquard’s Webstuhl ward erst 1801 fertiggestellt; die erste praktisch brauchbare Nähmaschine (diejenige Thimonnier’s) liess — trotz Ver- suchen, die am Schlusse des 18. Jahrhunderts begannen — noch volle dreissig Jahre länger auf sich warten. 1) Auch hier fehlt es natürlich nicht an vorangegangenen Ideen und Versuchen, und zwar treffen wir wieder in erster Reihe auf den grossen Leonardo, der eine Spinn- maschine erfand, welche die ruhmreichsten Einfälle der späteren Zeit schon alle enthielt, so dass sie »unseren heutigen Spindelkonstruktionen vollkommen ebenbürtig gegenübersteht«, und der sich ausserdem mit der Konstruktion von Webstühlen, Tuchschermaschinen u. s. w. ab- gab. 2) Doch blieb dies alles auf unsere Zeit einflusslos und gehört folglich nicht hierher. Und noch eine Thatsahe darf nicht unbeachtet bleiben: dass nämlich noch heute auf einem überwiegend grossen Teil der Welt gesponnen und gewoben wird, wie vor Jahrhunderten; gerade in diesen Dingen ist der Mensch zäh konservativ; 3) nimmt er aber 1) Eine wirklich praktische, umfassende Geschichte der Industrie habe ich in keiner Sprache ausfindig machen können; man muss aus fünfzig verschiedenen Specialschriften die Daten mühsam zusammensuchen und kann froh sein, wenn man überhaupt etwas findet, denn die Industriellen leben ganz in der Gegenwart und kümmern sich blutwenig um Geschichte. Für den zuletzt erwähnten Gegen- stand vergleiche man jedoch Hermann Grothe: Bilder und Studien zur Geschichte vom Spinnen, Weben, Nähen (1875). 2) Grothe: a. a. O., S. 21 und für Ausführlicheres, Grothe: Leonardo da Vinci als Ingenieur, 1874, S. 80 fg. Leonardo war überhaupt unerschöpflich in der Erfindung von Mechanismen, wovon man sich in dem zuletzt genannten Werke überzeugen kann. 3) Grothe: Bilder und Studien, S. 27.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 814. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/293>, abgerufen am 25.11.2024.