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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Industrie.
Gewalt auf Leben und Politik einwirkt; man denke nur an Dampf
und Elektricität; trotzdem ist sie keine eigentlich selbständige, sondern
nur eine abgeleitete Erscheinung, welche aus den Bedürfnissen der
Gesellschaft einerseits, aus den Fähigkeiten der Wissenschaft anderer-
seits hervorwächst. Darum sind ihre verschiedenen Etappen kaum oder
gar nicht organisch miteinander verbunden, denn eine neue Industrie
entwächst nur selten einer alten, sondern sie wird durch neue Bedürf-
nisse und durch neue Entdeckungen ins Leben gerufen. Vollends in
unserem Jahrhundert waltet eine ganz und gar neue Industrie, die, als
eine der grossen, neuen "Kräfte" (siehe S. 21), der Civilisation unseres
Jahrhunderts ihr besonderes, individuelles Gepräge verlieh und auf
weite Gebiete des Lebens -- wie vielleicht keine frühere Industrie -- von
Grund aus umgestaltend einwirkte. Diese Industrie wird im letzten
Viertel des 18. Jahrhunderts ersonnen und tritt erst in unserem Säculum
ins Leben ein; was früher bestand, schwindet wie vor einem Zauber-
stabe und hat also für uns -- ich wiederhole es -- nur akademisches
Interesse. Allerdings wird der Wissbegierige die Idee der Dampf-
maschine auch in früheren Zeiten auffinden, wobei er nicht wie üblich
allein auf den hundert Jahre vor Watts lebenden Papin und auf den
genau zweitausend Jahre vor Papin lebenden Hero von Alexandrien
den Blick richten wird, sondern namentlich auf jenen unbegreiflichen
Wundermann Leonardo da Vinci, der hier wie anderwärts seiner tief
in Kirchenkonzilien und Inquisitionsgerichten steckenden Zeit mit Riesen-
schritten vorausgeeilt war: Leonardo hat uns die genaue Zeichnung
einer durch Dampfkraft getriebenen, mächtigen Kanone hinterlassen
und er hat sich ausserdem namentlich noch mit zwei Problemen be-
schäftigt: wie man Dampfkraft zur Fortbewegung der Schiffe und wie
man sie zum Pumpen des Wassers verwenden könnte -- gerade die
zwei Gegenstände, bei denen die Lösung drei Jahrhunderte später, als
erste Anwendung der Dampfkraft, gelang. Doch waren weder seine
Zeit und ihre Bedürfnisse und politischen Zustände, noch die damalige
Wissenschaft und ihre Mittel genügend entwickelt, um diese genialen
Eingebungen in die Praxis überführen zu können. Als der günstige
Augenblick kam, waren Leonardo's Gedanken und Versuche inzwischen
längst der Vergessenheit anheimgefallen und sind erst vor wenigen
Jahren von Neuem ans Tageslicht gebracht worden. Die Anwendung
des Dampfes, wie wir sie heute erleben, ist ein ganz Neues, dessen
Besprechung zu unserem Jahrhundert gehört, da wir uns hier ebenso
wie im früheren Verlauf dieses ganzen Buches hüten wollen, unser

Industrie.
Gewalt auf Leben und Politik einwirkt; man denke nur an Dampf
und Elektricität; trotzdem ist sie keine eigentlich selbständige, sondern
nur eine abgeleitete Erscheinung, welche aus den Bedürfnissen der
Gesellschaft einerseits, aus den Fähigkeiten der Wissenschaft anderer-
seits hervorwächst. Darum sind ihre verschiedenen Etappen kaum oder
gar nicht organisch miteinander verbunden, denn eine neue Industrie
entwächst nur selten einer alten, sondern sie wird durch neue Bedürf-
nisse und durch neue Entdeckungen ins Leben gerufen. Vollends in
unserem Jahrhundert waltet eine ganz und gar neue Industrie, die, als
eine der grossen, neuen »Kräfte« (siehe S. 21), der Civilisation unseres
Jahrhunderts ihr besonderes, individuelles Gepräge verlieh und auf
weite Gebiete des Lebens — wie vielleicht keine frühere Industrie — von
Grund aus umgestaltend einwirkte. Diese Industrie wird im letzten
Viertel des 18. Jahrhunderts ersonnen und tritt erst in unserem Säculum
ins Leben ein; was früher bestand, schwindet wie vor einem Zauber-
stabe und hat also für uns — ich wiederhole es — nur akademisches
Interesse. Allerdings wird der Wissbegierige die Idee der Dampf-
maschine auch in früheren Zeiten auffinden, wobei er nicht wie üblich
allein auf den hundert Jahre vor Watts lebenden Papin und auf den
genau zweitausend Jahre vor Papin lebenden Hero von Alexandrien
den Blick richten wird, sondern namentlich auf jenen unbegreiflichen
Wundermann Leonardo da Vinci, der hier wie anderwärts seiner tief
in Kirchenkonzilien und Inquisitionsgerichten steckenden Zeit mit Riesen-
schritten vorausgeeilt war: Leonardo hat uns die genaue Zeichnung
einer durch Dampfkraft getriebenen, mächtigen Kanone hinterlassen
und er hat sich ausserdem namentlich noch mit zwei Problemen be-
schäftigt: wie man Dampfkraft zur Fortbewegung der Schiffe und wie
man sie zum Pumpen des Wassers verwenden könnte — gerade die
zwei Gegenstände, bei denen die Lösung drei Jahrhunderte später, als
erste Anwendung der Dampfkraft, gelang. Doch waren weder seine
Zeit und ihre Bedürfnisse und politischen Zustände, noch die damalige
Wissenschaft und ihre Mittel genügend entwickelt, um diese genialen
Eingebungen in die Praxis überführen zu können. Als der günstige
Augenblick kam, waren Leonardo’s Gedanken und Versuche inzwischen
längst der Vergessenheit anheimgefallen und sind erst vor wenigen
Jahren von Neuem ans Tageslicht gebracht worden. Die Anwendung
des Dampfes, wie wir sie heute erleben, ist ein ganz Neues, dessen
Besprechung zu unserem Jahrhundert gehört, da wir uns hier ebenso
wie im früheren Verlauf dieses ganzen Buches hüten wollen, unser

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[813/0292] Industrie. Gewalt auf Leben und Politik einwirkt; man denke nur an Dampf und Elektricität; trotzdem ist sie keine eigentlich selbständige, sondern nur eine abgeleitete Erscheinung, welche aus den Bedürfnissen der Gesellschaft einerseits, aus den Fähigkeiten der Wissenschaft anderer- seits hervorwächst. Darum sind ihre verschiedenen Etappen kaum oder gar nicht organisch miteinander verbunden, denn eine neue Industrie entwächst nur selten einer alten, sondern sie wird durch neue Bedürf- nisse und durch neue Entdeckungen ins Leben gerufen. Vollends in unserem Jahrhundert waltet eine ganz und gar neue Industrie, die, als eine der grossen, neuen »Kräfte« (siehe S. 21), der Civilisation unseres Jahrhunderts ihr besonderes, individuelles Gepräge verlieh und auf weite Gebiete des Lebens — wie vielleicht keine frühere Industrie — von Grund aus umgestaltend einwirkte. Diese Industrie wird im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ersonnen und tritt erst in unserem Säculum ins Leben ein; was früher bestand, schwindet wie vor einem Zauber- stabe und hat also für uns — ich wiederhole es — nur akademisches Interesse. Allerdings wird der Wissbegierige die Idee der Dampf- maschine auch in früheren Zeiten auffinden, wobei er nicht wie üblich allein auf den hundert Jahre vor Watts lebenden Papin und auf den genau zweitausend Jahre vor Papin lebenden Hero von Alexandrien den Blick richten wird, sondern namentlich auf jenen unbegreiflichen Wundermann Leonardo da Vinci, der hier wie anderwärts seiner tief in Kirchenkonzilien und Inquisitionsgerichten steckenden Zeit mit Riesen- schritten vorausgeeilt war: Leonardo hat uns die genaue Zeichnung einer durch Dampfkraft getriebenen, mächtigen Kanone hinterlassen und er hat sich ausserdem namentlich noch mit zwei Problemen be- schäftigt: wie man Dampfkraft zur Fortbewegung der Schiffe und wie man sie zum Pumpen des Wassers verwenden könnte — gerade die zwei Gegenstände, bei denen die Lösung drei Jahrhunderte später, als erste Anwendung der Dampfkraft, gelang. Doch waren weder seine Zeit und ihre Bedürfnisse und politischen Zustände, noch die damalige Wissenschaft und ihre Mittel genügend entwickelt, um diese genialen Eingebungen in die Praxis überführen zu können. Als der günstige Augenblick kam, waren Leonardo’s Gedanken und Versuche inzwischen längst der Vergessenheit anheimgefallen und sind erst vor wenigen Jahren von Neuem ans Tageslicht gebracht worden. Die Anwendung des Dampfes, wie wir sie heute erleben, ist ein ganz Neues, dessen Besprechung zu unserem Jahrhundert gehört, da wir uns hier ebenso wie im früheren Verlauf dieses ganzen Buches hüten wollen, unser

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 813. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/292>, abgerufen am 22.11.2024.